Am 24. März 2023 findet die erste Behindertensession im Bundeshaus statt. 44 Menschen mit Behinderungen werden über eine Resolution beraten, welche die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen stärken soll. Das Interesse, an der Session teilzunehmen, ist gross. Ein Interview mit Anna-Lea Imbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Pro Infirmis Schweiz.
Frau Imbach, Sie und Ihr Team organisieren die Behindertensession. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Nationalrat Martin Candinas (die Mitte) ist auf uns zugekommen. Er ist selber langjähriges Mitglied von Pro Infirmis Kanton Graubünden, und zudem ist er dieses Jahr Präsident des Nationalrats. Diese Funktion wollte er nutzen, um die Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderungen zu stärken. Gemeinsam mit Martin Candinas und Nationalrat Christian Lohr (die Mitte) haben wir schliesslich die Idee der Behindertensession entwickelt. Die Inhalte der Session werden von einer Behindertenkommission zusammengestellt. Auf diese Weise werden die Inhalte der Session von Menschen mit Behinderungen selber erarbeitet.
Die 44 Sitze sollen verdeutlichen, wie eine angemessene Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe im Nationalrat aussehen würde.
Die Behindertenkommission besteht mit Nationalrat Christian Lohr aus sieben Mitgliedern. Wie wurden die Kommissionsmitglieder ausgewählt?
Ein wichtiges Kriterium war, dass die Kommissionsmitglieder gegenwärtig ein politisches Amt ausüben und entsprechende Erfahrung mitbringen. Als Politikerin oder Politiker mit Behinderung haben sie eine Vorbildfunktion. Weitere Kriterien waren die Sprachregion, Parteizugehörigkeit und Behinderungsart. Das Ziel war, dass die Kommission unter den aktuellen Umständen möglichst breit aufgestellt ist.
44 Sitze werden mit Menschen mit Behinderungen besetzt. Weshalb nicht alle 200 Nationalratssitze wie zum Beispiel auch bei der Jugendsession?
Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz 22 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung. Diese Gruppe von Menschen ist im Bundeshaus praktisch nicht vertreten. Die 44 Sitze sollen verdeutlichen, wie eine angemessene Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe im Nationalrat aussehen würde. Denn auch Menschen mit Behinderungen möchten politisch tätig sein, sind aber häufig unsichtbar oder ihre Teilhabe wird durch Hürden erschwert oder verunmöglicht.
Was unternehmen Sie, damit die Session barrierefrei ist?
Es sind einerseits bauliche Anpassungen notwendig, damit es im Nationalratssaal mehr Plätze für Menschen im Rollstuhl hat. Zum andern haben wir Gebärden- und Schriftdolmetscherinnen in den drei Landessprachen und Übersetzungen in LPC (gesprochenes Französisch wird mittels Gesten visualisiert) organisiert. Wir bieten auch an, Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Bahnhof abzuholen und wieder zurückzubringen. Wer auf eine Assistenz angewiesen ist, kann seine Begleitperson ins Parlamentsgebäude mitnehmen. Alle Texte werden zudem in Leichter Sprache veröffentlicht. Schliesslich ist eine Vorbereitungs-Sitzung geplant, an der in Leichter Sprache informiert wird, um was es in der Session geht.
Sie sagen, Menschen mit Behinderungen seien bereit, politisch tätig zu sein. Woran lässt sich das feststellen?
Zum Beispiel am Interesse an der Session. Dieses ist sehr gross. Für die 44 Sitze im Parlament haben sich über 200 Menschen mit Behinderungen gemeldet.
Und diese 200 Kandidatinnen und Kandidaten mussten bis am 21. Januar Stimmen für sich gewinnen, damit sie für einen der 44 Sitze gewählt werden.
Genau. Und es sind insgesamt über 20’000 Stimmen für die Kandidat:innen eingegangen. Wir sind überwältigt von dieser hohen Resonanz.
Kategorien aufzustellen, ist grundsätzlich problematisch, und daher wollten wir keine Quoten für verschiedene Behinderungen vorgeben. Trotzdem kommt man nicht ganz ohne sie aus.
Wie sieht jetzt die Repräsentation der Menschen von Behinderungen in der Session aus?
Die Wahl hat ein ziemlich ausgewogenes Resultat der Parlamentarier:innen ergeben. Im Nationalrat sind die Sprachregionen nach einer Quote vertreten. Diese wurde auf die 22% heruntergerechnet, und entsprechend sind die Sprachregionen repräsentiert. Aus der Wahl ist der Frauenanteil von 40% hervorgegangen. Dahingegen war die Frage der Behinderungsarten herausfordernder.
Wie konnten Sie herausfinden, wer welche Behinderungsart vertritt?
Alle Interessierten mussten bei der Anmeldung die Behinderungsart angeben.
An der Session sollen möglichst viele Behinderungsarten vertreten sein. Im Vorfeld der Vorbereitungen habe Sie sich auf eine Quote der Behinderungsarten geeinigt. Wie sah sie aus?
Kategorien aufzustellen, ist grundsätzlich problematisch, und daher wollten wir keine Quoten für verschiedene Behinderungen vorgeben. Trotzdem kommt man nicht ganz ohne sie aus. Darum haben wir uns entschieden, für jede grobe Kategorie einer Behinderungsart nach der UNO-Behindertenrechtskonvention Art. 1 mindestens einen Sitz zu garantieren. Das heisst, dass es an der Session mindestens eine Person mit einer Sinnesbeeinträchtigung, unterteilt in Hör- und Sehbehinderung, sowie mindestens je eine Person mit körperlicher, kognitiver und psychischer Behinderung gibt. Nebst dieser Minimalgarantie wollten wir die Repräsentation der Behinderungsarten durch die Wahl entscheiden lassen.
Und jetzt, wie ist die Verteilung der Behinderungsarten entschieden worden?
Die Wahl hat das erfüllt. Je mindestens ein Sitz geht an eine:n Vertreter:in für körperliche Behinderungen, psychische Behinderungen, kognitive Behinderungen sowie je eine:n für Hörbehinderung und Sehbehinderung. In diesem Sinn gab es keinen Quotensitz für eine Behinderung. Man sieht aber ganz klar: Menschen mit kognitiver Behinderung sind untervertreten und Menschen mit körperlicher Behinderung eher übervertreten.
Wie handhaben Sie das nun, da Menschen mit körperlichen Behinderungen in der Mehrheit und Menschen mit kognitiven Behinderungen in der deutlichen Minderheit sind?
Im Zentrum der Behindertensession stehen die gemeinsamen Anliegen und auch der übergreifende politische Einsatz für den Abbau von Hindernissen. Diese schliessen die Menschen mit kognitiven Behinderungen mit ein.
An der Session soll eine Resolution beraten werden, die fordert, dass die Hindernisse für die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen abzubauen sind. Können Sie etwas mehr dazu sagen?
Nein, derzeit nicht. Der Inhalt der Resolution wird erst am 24. März publiziert. Derzeit wird sie in der Kommission erarbeitet. An der Session können sich dann die 44 Teilnehmenden zu den Forderungen der Resolution äussern und Anträge stellen.
Können Sie denn sagen, was mit «politischer Teilhabe» im Zusammenhang mit der Resolution gemeint ist?
Konkret geht es um das aktive und passive Wahlrecht. Bei diesen Rechten sind Menschen mit Behinderungen immer noch mit Hindernissen konfrontiert. Die Informationen, z.B. im Internet, sowie die Veranstaltungen der Parteien sind für Menschen mit Behinderungen oft nicht barrierefrei zugänglich. Weiter beinhaltet das Wahlrecht, dass Menschen mit Behinderungen sich selber für ein politisches Amt zur Verfügung stellen können, was nicht so einfach ist.
Wir glauben, dass 2023 das Jahr werden kann, in dem Menschen mit Behinderungen mit der politischen Teilhabe weiterkommen.
Für die Session kann man sich auch als Gast anmelden. Sie sagen, das Interesse an der Behindertensession sei so gross, so dass Sie bereits Absagen schicken mussten.
Ja, wir haben auch Anmeldungen von Menschen ohne Behinderungen bekommen. Beispielsweise von Vertreterinnen und Vertretern von Organisationen aus dem Behindertenbereich. Uns ist es jedoch ein Anliegen, dass primär Personen mit Behinderungen diesem Anlass beiwohnen. Aber wir mussten leider auch zahlreichen Personen mit Behinderungen absagen. Das Interesse war gross und das Bundeshaus hat nur beschränkt Platz.
Auf der Website von Pro Infirmis heisst es, dass die Behindertensession per Live-Stream im Internet übertrage wird. Dadurch können alle, auch die Personen, denen abgesagt werden mussten, virtuell der Session beiwohnen. Welche Details können Sie uns diesbezüglich noch geben?
Das ist richtig, dass es einen Live-Stream geben wird. Details können wir noch nicht bekannt geben, weil wir noch an der technischen Lösung arbeiten. Aber so viel darf verraten werden: Der Livestream wird in Deutsch, Französisch und Italienisch und barrierefrei angeboten. Das heisst mit Gebärdensprache und Schriftdolmetschen in den drei Sprachen.
Was erhoffen Sie sich von der Behindertensession?
Wir hoffen auf eine Resolution mit hoher Legitimität. Weiter möchten wir die Forderung bekräftigen, dass Menschen mit Behinderungen in der Politik besser repräsentiert sein müssen. Denn das ist wichtig, um mehr Anliegen von Menschen mit Behinderungen in die Politik einbringen zu können. Im besten Fall entsteht eine Bewegung von Menschen mit Behinderungen, die sich politisch engagieren. Wir glauben, dass 2023 das Jahr werden kann, in dem Menschen mit Behinderungen mit der politischen Teilhabe weiterkommen.