«Wir sind alle Teil des Problems»

von Sonja L. Bauer 21. Januar 2023

Im Dezember verwarf die Grosse Kammer die Widerspruchslösung (Nein heisst Nein) in Bezug auf sexuelle Handlungen mit 99 gegen 88 Stimmen und stellte sich somit gegen den Ständerat. Im Gespräch mit dem Berner Sozialarbeiter Daniel Nacht zur Frage, weshalb er sich für die Konsenslösung einsetzt.

Gemeinsam mit zig nationalen, regionalen und lokalen Vereinigungen reichte «Amnesty International» (AI) im November die Petition «Nur Ja heisst Ja» (Konsenslösung) ein. «Jede sexuelle Handlung ohne Zustimmung ist als Vergewaltigung anzuerkennen. Nur so kann das Gesetz unser Recht auf sexuelle Selbstbestimmung effektiv schützen», hiess es unter anderem in der Petition. «Die sexuelle Selbstbestimmung muss geschützt werden.» Der Nationalrat stimmte für die Konsenslösung, im Gegensatz zum Ständerat. Im Frühling wird nun die Bundesversammlung endgültig darüber entscheiden, welchem Modell das Sexualstrafrecht in Zukunft folgen wird.

Im Gespräch mit Daniel Nacht

Daniel Nacht studierte Soziale Arbeit und arbeitet bei den Sozialdiensten Bern. Bald tritt er eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent an: Für ein drei Jahre dauerndes Forschungsprojekt des Nationalfonds untersucht er, wie durch institutionalisierte und subjektive Praktiken und Deutungsmuster von Lehrpersonen Differenzen relevant gemacht werden und bestehende Differenzordnungen reproduziert oder verschoben werden können. Darin übernimmt er die wissenschaftliche Assistenz. Im Zentrum stehen Fragen wie: «Warum haben migrantisierte Kinder und Jugendliche schlechtere Bildungschancen?»

Daniel Nacht, warum fühlen Sie sich in Bezug auf das Thema angesprochen?

Daniel Nacht: Es ist ein Thema, das mich als männlich gelesenen und sozialisierten Menschen weniger betrifft als dieweiblichen. Frauen sind klar mehr betroffen. Ich engagiere mich gerade deshalb dafür: Männer sind klar in der privilegierteren Situation. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Worum geht es, wenn ein Mensch in eine Situation gerät, in der er/sie sexuell genötigt wird?

Es geht um Macht. Manche männlich gelesenen Personen legen ein Verhalten an den Tag, das problematisch ist. Menschen, die weiblich sozialisiert wurden, schlucken eher, als dass sie selbst Macht ausüben. Wenn es zu einem Machtgefälle kommt, sind immer Menschen beteiligt, die sie ausüben respektive die sich ihr ergeben.

Bei der Widerspruchslösung bleibt der Täter in der Machtposition.

Sind alle jungen Menschen so reflektiert wie Sie?

(lacht) Ich bewege mich in einem alternativ linken Umfeld. Auch hier sehe ich, dass von männlich sozialisierten Menschen, trotz aller guten Vorsätze, Macht gegenüber Frauen und auch anderen Männern ausgeübt wird. Ich nehme mich übrigens davon nicht aus. Das möchte ich betonen. Es bedingt Arbeit und eine unaufhörliche Reflexion.Denn wenn du männlich gelesen wirst und zudem noch weiss bist, kommen dir viele Privilegien zugute. Ich glaube, Cis-Menschen* profitieren vielfach nicht bewusst von diesen Strukturen. Schliesslich wurden diese während der vergangenen Jahrhunderte aufgebaut. Sie spiegeln die Norm. Selbst in meinem Umfeld scheitern gebildete Männer an gewissen Strukturen. Sie gehen zwar an Demos, ich beobachte aber im Alltag, dass selten einer seine Privilegien abgibt.

Was meinen Sie damit?

Solange eine Frau zum Beispiel für gleiche Arbeit nicht gleich viel verdient wie ein Mann, bedeutet dies, dass auch der Mann diese Lohnungleichheit akzeptiert. Ich kenne keinen Mann, der einen gut bezahlten Job nicht annimmt, wenn seine Kollegin im gleichen Job nicht gleich verdient. Es wäre doch ein Zeichen, wenn man sagte: «Ich mache den Job nicht, wenn meine Kollegin nicht das Gleiche verdient wie ich.» Aber dies in der Praxis umzusetzen ist natürlich extrem schwierig. Ich will damit einfach sagen, dass der gute Wille allein nicht reicht. Man sieht es ja: Es sind die Opfer sexualisierter Gewalt, die auf die Strasse gehen. Und das sind nun weltweit meistens die Frauen. Es fehlen konsequente Handlungen, und zwar über alle politischen Ebenen hinweg. Diese Kritik gilt übrigens auch mir. Auch ich spreche aus privilegierter Position.

Warum denken noch nicht mehr Männer wie Sie? Oder täuscht dies?

Es herrscht eine sehr selektive Wahrnehmung. Beim Rassismus zum Beispiel ist es derselbe Mechanismus. Es geht immer um Machtausübung, wenn jemand diskriminiert wird. Macht wirkt bei von Rassismus in jeder Form betroffenen Menschen. Diesbezüglich unreflektierte Menschen halten ihr oft unbewusst diskriminierendes Handeln für «normal». Sie halten jene, die sie diskriminieren, beispielsweise für weniger intelligent, begegnen ihnen nicht auf Augenhöhe. Ihnen fehlen Information und Aufklärung und dadurch das Verständnis. Und diskriminierte Menschen ergeben sich oft diesen Strukturen. Sie glauben schliesslich selbst, dass sie weniger intelligent oder weniger wichtig sind als andere. Diese Mechanismen funktionieren immer gleich. Dies ist ja genau das Thema meiner Forschungen. Warum ergeben sich Minderheiten, migrantisierte oder eben weiblich sozialisierte Menschen diesen Machtstrukturen? Es sollen doch alle die gleichen Bildungschancen haben. Lehrpersonen sind gefordert, auch migrantisierten Menschen mehr Selbstbewusstsein zu geben. Was heute leider nicht so ist.

Warum stehen Sie für ein «Nur Ja heisst Ja!» ein?

Bei der Widerspruchslösung bleibt der Täter in der Machtposition. Da die Unschuldsvermutung gilt, muss das Opfer sein Nein beweisen. Das bringt betroffene Menschen in eine schwierige Situation. Unter Druck das Richtige zu sagen, ist fast unmöglich. Das oft schon traumatisierte Opfer gerät unter Zugzwang. Es muss die Tat beweisen, damit es zur Anklage kommt, das ist ein Affront. Deshalb die Machtverschiebung von Nein zu Ja. Dies bringt dem Opfer Entlastung und schont es.

Selbst in meinem Umfeld scheitern gebildete Männer an gewissen Strukturen. Sie gehen zwar an Demos, ich beobachte aber im Alltag, dass selten einer seine Privilegien abgibt.

Welche Möglichkeiten haben wir, um uns zu ändern?

Weg von Materialismus, weg von den einseitigen Privilegien zum Menschen, den wir sein können! Ansonsten konsumiert man nur. Reflexion ist wie eigenes Gemüse im Garten anbauen. Erst wenn ich das selbst getan habe, weiss ich, was ich esse. So ist es auch mit den sexistischen Strukturen. Wer immer nur profitiert, stumpft den anderen gegenüber ab. Das kann nicht glücklich machen. Die Entscheidung, das eigene Verhalten zu reflektieren, ist keine reine Bildungsangelegenheit. Es kann gut sein, dass ich im Himalaya auf einen Menschen treffe, der dieselben Werte lebt.

Wie wissen wir, was richtig oder falsch ist?

Ich glaube, dies folgt der Logik von Erlebnissen und Erfahrungen. Ich bin sicher, dass unsere Kultur, unsere Sozialisierung, also die Erziehung eines Menschen, den grössten Einfluss auf sein Verhalten hat. «Richtig» und «falsch» bedingt, dass man eine Grundlage hat, die einen das Unterscheiden und Entscheiden überhaupt ermöglicht. Auch deshalb ist Bildungsgerechtigkeit so wichtig.

Dieser Beitrag erschien zuerst beim Berner Landboten.