Journal B: Ihr erstes Buch «Elefanten im Garten» und Ihr neues Buch «Im Meer waren wir nie» beginnen beide mit dem Tod.
Meral Kureyshi: Der Tod fasziniert mich. Ich arbeite mit meinen Ängsten. Die Vergänglichkeit beschäftigt mich. Je älter ich werde, desto mehr erfahre ich von Menschen, die sterben – das lässt mich nicht in Ruhe.
In der Literatur hat der Tod eine besondere Bedeutung. Figuren können weiterleben, indem sie erinnert werden. In Ihren Büchern stirbt der Vater immer zu früh.
Ich habe «Elefanten im Garten» angefangen zu schreiben, als mein Vater gestorben ist. Das Gefühl, dass jemand geht, ist mir nicht fremd – und eigentlich niemandem. Es macht etwas mit uns. Meine Mutter sagte immer: «Dein Vater lebt in uns weiter.» Ich habe seine Wut geerbt, mein Bruder sein Aussehen, meine Schwester seinen Humor. In der Kombination sind wir fast wie er. Es klingt vielleicht esoterisch, aber ich glaube nicht, dass seine Energie einfach weg ist. Ich spreche manchmal in Gedanken mit ihm. Man kann es Trost nennen, vielleicht dürfen wir aber auch unserer Intuition vertrauen. Meine Grossmutter sagte jeweils: «Das, was nach dem Tod kommt, ist das, woran wir glauben.» Diese Vorstellung gefällt mir.
Meral Kureyshi wurde 1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien geboren und kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Bern. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis und wurde in viele Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman «Fünf Jahreszeiten» wurde mehrfach ausgezeichnet. Ihr neuestes Buch «Im Meer waren wir nie» handelt von Lili, die zu ihrem Mann ins Altersheim zieht, und regelmässig von der Ich-Erzählerin besucht wird. Diese lebt im selben Haus wie Lilis Enkelin und zieht mit dieser zusammen deren Sohn Eric gross. Doch sie hat eine Stelle in einer fernen Stadt gefunden und zögert nun, den beiden zu gestehen, dass sie bald wegziehen wird. Sie ringt mit der verblassenden Freundschaft zu Sophie und mit der Tristesse des Altersheims zwischen Temesta und Kartenspiel. Als Lili schliesslich stirbt, wagen die jungen Frauen einen Neubeginn.
Wenn eine wichtige Person stirbt, fragt man sich: Was bleibt von einem Menschen, wenn er geht? In Ihrem Roman geht es um Erbe, darum, was wir mitnehmen, ob wir wollen oder nicht. Die Ich-Erzählerin betet für Lili in ihrer Muttersprache und sagt: «Im Treppenhaus werde ich für Lili beten, die Handfläche nach oben gedreht, in der Sprache meiner Grossmutter. Ein Überbleibsel, sonst habe ich nichts von ihr, ausser ihrem sturen Kopf.» Erben wir mehr als nur Materielles?
Wir erben mehr als nur Augenfarbe oder Haarfarbe. Wir erben Denken, Sprache und Haltung. Wir erben ein Glück, einen Krieg, ein Haus – oder eben keines. Ich werde nicht viel Materielles erben, aber ich erbe andere Dinge: Gefühle, eine Angst, Freude, Gedanken, Vergangenheit und ich erbe Abschied.
Ihr Buch setzt sich auch mit Glauben auseinander. Der Kellner in der Geschichte sagt: «Glauben ist die grösste Tugend. Alle wissen so viel, dass sie vergessen haben zu glauben.» Was bedeutet Glauben für Sie?
Ich bin kein Mensch, der nicht glaubt. Ich glaube daran, dass es nicht schwarz wird, wenn wir tot sind.
‚Doch ich glaube, fährt er fort, an die Liebe, an meine Kraft zum Überleben, an Träume, an die Unendlichkeit, auch wenn ich sie mir nicht vorstellen kann, sie ist da. Nur weil wir uns etwas nicht vorstellen können, ist es noch lange keine Lüge.‘
Im Meer waren wir nie
In der Schule lernen wir Fakten, die uns für den Arbeitsmarkt rüsten. Aber Geschichten können eine andere Sicht auf die Dinge vermitteln, die uns auch begleiten können. Es tauchen Figuren auf, die Geschichten erzählen und uns die Dinge von einem anderen Blickwinkel wahrnehmen lassen. Fehlt es uns an Geschichten?
Ich bin bis zu meinem zehnten Lebensjahr in einer Welt aufgewachsen, in der Geschichten eine grosse Rolle spielten. In der türkischen und arabischen Kultur beginnen Märchen mit «Es war einmal, es war keinmal». Es hätte also auch ganz anders sein können. Dann kam ich in die Schweiz und las Grimm-Märchen – sie waren so endgültig, das hat mich schockiert. Ich fragte meine Mutter: «War das wirklich so?» Und sie sagte: «Nein, die haben keine Ahnung.» Diese Ambivalenz zwischen Wahrheit und Erfindung beschäftigt mich bis heute.

Ihre Romäne haben eine starke soziale Dimension. Sie beobachten genau und erzählen von Menschen, die oft übersehen werden – wie dem Kellner, «der jeden Tag arbeiten muss, weil er es sich nicht leisten kann, weniger als einen Tag nicht zu arbeiten.»
Mir ist es wichtig, Aufmerksamkeit auf solche Menschen zu richten, die nicht so viel gehört werden. Ich glaube nicht, dass ich bewusst schreibe, so wie ich nicht bewusst denke – meine Texte entstehen aus Beobachtungen. Ich notiere mir kleine Szenen aus dem Alltag, sammle sie, und irgendwann ergibt sich ein roter Faden in diesen Beobachtungen.
Auch die Freundschaften zwischen den Frauen in Ihrem Buch sind intensiv. Die Ich-Erzählerin und Sophie teilen sich die Elternschaft für Eric. Ist das eine Utopie, die Sie beschreiben?
Ich glaube nicht, dass es eine Utopie ist. Es passiert oft und viel. Ich kenne es aus meinem Umfeld. Ich habe ähnliche Sachen erlebt, mit einer Freundin, die früh Mutter wurde und wir haben uns als enge Freundinnen organisiert, dass wir abwechslungsweise bei ihr übernachteten. Es ist nur etwas, das in der Literatur selten erzählt wird. Darum hat es mich interessiert zu erzählen, wie fest man sich in so einen Prozess geben kann und eingesogen wird.
‚Ein Kind braucht mindestens fünf Erwachsene, so fühlte es sich an.‘
Im Meer waren wir nie
Lili, die alte Protagonistin von Im Meer waren wir nie, erzählt von zwei Männern in ihrem Leben – Winter und Emil. Die Zeit mit Winter war kurz, aber intensiv, während sie mit Emil ein Leben lang zusammen war. Durch das Erzählen gibt sie diesen Erfahrungen eine neue Gewichtung. Kann Literatur Zeit neu denken?
Absolut. Ich habe viel mit alten Frauen gesprochen, und ihre Erzählungen haben mich tief berührt. Viele Geschichten sind tragisch – Liebesgeschichten, die nie stattgefunden haben, weil sie in ihrer Zeit nicht möglich waren. Manche Leben sind nicht gelebte Leben. Es gibt Geschichten, die nie stattgefunden haben.
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Sie schreiben Ihre Bücher aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin. Ist diese über all diese Bücher hinweg dieselbe Figur geblieben ?
Ja, für mich ist es dieselbe Person. Sie ist wie eine Kamera, die die Welt betrachtet und reflektiert wird durch die Menschen um sie herum. Sie bleibt, aber ihr Blick auf die Welt verändert sich. Es sind andere Themen, die mich interessieren.
Ihre Bücher spielen oft in Bern. Sind diese Orte wichtig für Sie?
Die Bühne ist nicht so wichtig – es geht mir um die Geschichte. Aber weil ich hier lebe, tauchen diese Orte auf. In den Übersetzungen wird dann ein anderer botanischer Garten daraus, ein anderes Kunstmuseum. Die gibt es ja überall.
‚Wir Alten gehen vergessen, sagt sie, doch wir vergessen nicht, das ist das Traurige.‘
Im Meer waren wir nie
Ihr erster Roman ist vor zehn Jahren erschienen. Wie hat sich Ihr Schreiben seitdem verändert?
Weniger, als ich gedacht hätte. Ich schreibe, seit ich denken kann. Ich wünschte, es würde mit jedem Buch einfacher, aber es bleibt immer schwierig, Gedanken zu fassen. Meine Sprache wird vielleicht feiner, härter – aber meine Kamera bleibt dieselbe.
Brauchen Sie das Schreiben?
Ja. Es ist mein Instrument. Ich schreibe allein, und meine Texte sind schwarz auf weiss – sie sind pur. Es gibt keine Schauspieler, keine Bilder. Nur Sprache. Und das mag ich.
Jetzt ist Ihr Buch erschienen, Sie sind auf Lesetour und müssen sich intensiv mit dem Text beschäftigen. Wie geht es Ihnen damit?
Es ist schwierig. Ich habe mich fünf Jahre mit diesem Buch beschäftigt, und nur weil es jetzt veröffentlicht ist, ist es für mich nicht abgeschlossen. Ich denke daran weiter. Das Buch wird so unterschiedlich gelesen. Manche sehen darin, was ich nie gesehen habe. Und das ist schön.
