«Wir brauchen Massnahmen um den Flugverkehr einzudämmen»

von Luca Hubschmied 28. September 2019

Der Grossrat Hasim Sancar will für die Grünen in den Nationalrat einziehen. Im Interview erzählt er, wie er den Stadt-Land Graben bekämpfen will und weshalb der Kanton Bern bei der politischen Teilhabe der Migrationsbevölkerung noch in den Kinderschuhen steckt.

Im Breitsch-Träff sitzt der Grüne Grossrat Hasim Sancar an einem der vielen Tische. Der kurdisch-türkisch-schweizerische Kulturverein (KUTÜSCH), bei dem sich Sancar engagiert, öffnet hier jeweils am Sonntagnachmittag die Türen zum gemeinsamen Austausch. Bei einem Glas Apfelsaft erzählt Sancar, dass der Wahlkampf eine sehr eigene und intensive Zeit sei: «Um noch gross Politik zu machen ist es jetzt so kurz vor den Wahlen zu spät.» Nun gehe es darum, seine Vorstellungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Gross zu stressen scheint ihn das nicht, der ausgebildete Sozialarbeiter kennt den Politikbetrieb mittlerweile schon lange genug und kann fünfzehn Jahre Erfahrung auf lokaler und kantonaler Parlamentsebene vorweisen. Am 20. Oktober kandidiert er für die Grünen des Kantons Bern für einen Sitz im Nationalrat.

 

Hasim Sancar, Sie haben viel Erfahrung mit lokaler und kantonaler Politik, nun kandidieren Sie für den Nationalrat. Was zieht Sie ins Bundeshaus?

Ich war während acht Jahren im Stadtrat und sitze seit sieben Jahren im Grossrat. Durch meine Biografie als Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund, der vor 37 Jahren in die Schweiz kam, habe ich viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Diese möchte ich auf nationaler Ebene einbringen in den Bereichen Sozialversicherungsrecht, Migrationsrecht, Behindertenbereich und Grundrechte. Dort kann ich viel beitragen für eine sozial gerechte und ökologische Schweiz.

Wie schwierig waren die sieben Jahre im bürgerlich dominierten Grossrat des Kantons Bern für Sie aus politischer Sicht?

Zuvor im Stadtrat war ich in einer komfortableren Situation. Im Grossen Rat haben wir aber auch trotz der bürgerlichen Mehrheit Erfolge gehabt. Die Bürgerlichen haben in den letzten Jahren schmerzliche Niederlagen erfahren müssen. So sind weder Steuererleichterungen für Grosskonzerne noch Kürzungen beim Grundbedarf der Sozialhilfe durchgekommen. Im Grossen Rat verhinderte ich, dass das ehemalige Jugendheit Prêles für abgewiesende Asylsuchende als Rückkehrzentrum eingerichtet wird. Oft ging es dabei um Verhinderungstaktik von unserer Seite, aber diesen Weg haben wir nicht nur selbst gewählt.  Die bürgerliche Mehrheit hat sich oft arrogant verhalten, indem sie dachten, sie könnten ihre Anliegen all zu leicht durchsetzen und nicht erwartet haben, wie engagiert wir Widerstand leisten würden.

Städtische Anliegen haben im Grossen Rat oft eine schwierige Stellung.

Städte sind meist linksgrün orientiert und ländliche Gebiete eher bürgerlich-rechts. Im Grossen Rat habe ich oft eine Ablehnung gegenüber städtischer Politik verspürt. Die bürgerliche Mehrheit hat nicht verdaut, dass sie in den Städten an Einfluss verloren hat, deshalb wurde auf kantonaler Ebene oft gegen die Stadt politisiert. Etwa bei der Standortfrage der Fachhochschule. Mir ist es wichtig, städtische Interessen zu vertreten. Das ist nicht gegen ländliche Anliegen gerichtet, auch wenn einige bürgerliche Politiker sehr polemisch auftreten und diesen Graben vertiefen wollen. Es ist eine Realität, dass Städte wie Bern Wirtschaftsmotoren sind, daher sollten ihre Interessen auch ernst genommen werden.  

Wenn es um Themen wie die politische Teilhabe oder die Legalisierung von Sans-Papiers geht, stehen Städte wie Bern oft alleine da. Brauchen die Städte mehr politische Autonomie?

Schweizer Gemeinden besitzen bereits eine gewisse Autonomie, doch auch in Bern werden Themen wie die Aufteilung in zwei Halbkantone diskutiert. Wichtiger ist mir aber, dass auf kantonaler Ebene die Interessen der Städte erkannt werden um eine mögliche Spaltung zu verhindern. Wir sollten uns gegenseitig ergänzen und unterstützen um den Kanton als Ganzes weiterzubringen. In Migrationsfragen ist für mich klar, dass die erleichterte Einbürgerung für die zweite Generation vorangetrieben werden muss, ebenso die automatische Einbürgerung bei Geburt in der Schweiz. Mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz wurde die erforderliche Aufenthaltsdauer von zwölf auf zehn Jahre reduziert, gleichzeitig wurden aber die Bedingungen für den Erhalt eines Schweizer Passes verschärft. Im Kanton Bern ist es etwa so, dass vor der Einbürgerung zuerst alle Schulden bei der Sozialhilfe zurückgezahlt werden müssen. Für Menschen mit niedrigem Einkommen ist das praktisch unmöglich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Migrationsbevölkerung ein Teil unsere Gesellschaft ist, die sehr viel mitgestaltet in der Schweiz. Sie sollte daher mindestens auf lokaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht erhalten. Im Kanton Bern stecken wir diesbezüglich noch in den Kinderschuhen, weil die Kantonsverfassung das verhindert.

Die Klimapolitik war das dominierende Thema des Wahljahres. Wie kann es der Schweiz gelingen, gegen die drohende Klimakatastrophe vorzugehen?

Wir brauchen dringend Massnahmen um den Flugverkehr und den Individualverkehr einzudämmen. Es ist mir unverständlich, dass ein Zugticket von Bern nach Zürich teurer ist als ein Flugticket von Zürich in eine andere europäische Stadt. Auch in Bezug auf den öffentlichen Verkehr brauchen wir neue Konzepte. Meine Haltung ist, dass Arbeitsort und Wohnort möglichst derselbe sein sollten, denn wir werden mit dem Ausbau des ÖV bald an die Grenzen stossen. Mittel- bis langfristig sind wir gezwungen, dafür eine Lösung zu finden.

Sie fordern eine Einschränkung der individuellen Mobilität?

Es geht hier nicht um Zwang oder Verbote. Sondern um eine Förderung der lokalen Arbeit. Es macht keinen Sinn, dass so viele Menschen täglich von Bern nach Zürich oder umgekehrt zur Arbeit pendeln. Der Pendelverkehr wird irgendwann seine Kapazitätsgrenzen erreichen.

Weniger präsent war im Wahlkampf der Rahmenvertrag zwischen der Schweiz und der EU. Wie sehen Sie als möglicher Nationalrat das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union?

Grundsätzlich ist die Schweiz mit den bilateralen Verträgen bisher gut gefahren. Ich selbst setze mich für einen Beitritt der Schweiz zur EU ein. Das war nicht immer meine Haltung, allerdings habe ich realisiert, dass das Nichtdabeisein nationale Tendenzen verstärkt und wir mit den bilateralen Abkommen an Grenzen stossen. Die Schweiz sollte lieber die Gelegenheit nutzen, die europäische Gemeinschaft mitzugestalten als nur rumzujammern. Als eines der reichsten Länder mit einer funktionierenden Demokratie können wir in der EU ein gutes Beispiel darstellen. Unsere gute wirtschaftliche Lage verdanken wir zu einem grossen Teil auch der Zusammenarbeit mit der EU. Ein Beitritt ist aktuell aber noch nicht realistisch, daher sollten wir vorerst die bilateralen Verträge weiterentwickeln. Bei dem Rahmenabkommen, über das aktuell diskutiert wird, müssen aber die Rechte der Arbeitnehmenden und der Lohnschutz besser verankert werden.

Im Vorfeld der Wahlen wurde über einen möglichen Linksrutsch spekuliert. Was wünschen Sie sich für ein Zeichen der Wahlberechtigten am 20. Oktober?

Vor vier Jahren hat das linksgrüne Lager an Kraft verloren, was sich bei politischen Geschäften im Nationalrat deutlich gezeigt hat. Ich wünsche mir daher die nötige Korrektur dieser politischen Machtverteilung, um mit ökologischen Projekten die Klimaerwärmung vorerst zu stabilisieren und auch im sozialen Bereich wieder Fortschritte zu machen. Unsere Sozialwerke müssen mit geeigneten Massnahmen gestärkt werden, dies darf nicht auf Kosten von Frauen oder Menschen mit niedrigem Einkommen geschehen. Auch die Rechte der Menschen mit Behinderung sollten für eine Inklusion besser berücksichtigt werden und die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vorangetrieben werden. Wir haben genug Wohlstand in der Schweiz, nur leider ist dieser falsch verteilt.