Wenn im Januar in Davos die Wirtschaftseliten tagen, bietet in Bern die Tour de Lorraine seit vielen Jahren einen kritischen Gegensatz dazu. Das Politfestival entstand 2001 aus der Anti-WEF Bewegung heraus und hat sich seither verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Themenbereichen gewidmet. Letztes Jahr standen die Veranstaltungen unter dem Oberthema «Teilhabe für alle». Die diesjährige Ausgabe, die vom 17. bis 20. Januar stattfindet, trägt den Titel «Who cares?» (siehe auch Infobox rechts).
Die inhaltlichen Veranstaltungen der Tour de Lorraine beginnen heute Abend mit der Eröffnungsveranstaltung im Tojo Theater der Reitschule, der grosse Workshoptag findet am Samstag tagsüber im Progr statt. Natürlich wird auch gefeiert an der Tour de Lorraine, von Samstagabend bis Sonntagmorgen öffnen Lokale und Beizen in und um die Lorraine ihre Tore. Mehr Infos und das komplette Programm gibt es hier.
Wir haben vor dem Auftakt mit Annelies Feldmann und Norina Clausen gesprochen. Beide sind in der Inhaltsgruppe der Tour de Lorraine und haben mitgearbeitet, um das diesjährige Programm auf die Beine zu stellen.
Die anstehende 19. Ausgabe der Tour de Lorraine trägt den Titel «Who cares?». Was bietet dieses Thema?
Annelies: Care ist unglaublich spannend. Die Tour de Lorraine soll ein Start sein, der in alle möglichen Richtungen weitergedacht werden kann. Das Thema öffnet sich gerade erst.
Norina: Wir wollen die Menschen auffordern: Lasst euch drauf ein! Es ist sehr einfach, man kann unkompliziert einen Workshop besuchen…
Annelies: …und braucht kein Vorwissen dafür. Care bietet für jedes Leben einen Anknüpfungspunkt.
Care kann auch sehr schön sein, es geht nicht nur darum, zu klagen, dass wir Frauen* alle Care-Arbeit verrichten müssen, aber wir wollen sie nicht stillschweigend übernehmen. Das Thema der Care-Arbeit beinhaltet viele spannende Aspekte. Bei den ersten Treffen haben wir jeweils vom Care-Vulkan gesprochen. Unter der Oberfläche brodelt ganz viel, das noch kaum benannt werden kann und nur darauf wartet, auszubrechen.
Was gibt es Neues an der Tour de Lorraine dieses Jahr?
Norina: Soviel ich weiss, ist es das erste Mal, dass ein feministisches Thema im Vordergrund steht. Das ist leider durchaus bezeichnend, auch für linke Kreise, aber vielleicht auch gerade eine grosse Chance.
Annelies: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns in diesem Jahr mit Care-Arbeit auseinandersetzen. Dafür brauchte es einen grossen Effort und viel Mobilisierung, insbesondere von uns Frauen*.
Seit letztem Frühling plant ihr in der Inhaltsgruppe die 19. Ausgabe der Tour de Lorraine, woher kommt die Motivation?
Annelies: Von dem Thema der Care-Arbeit! Für mich war die Auseinandersetzung damit ein spannender Lernprozess. Wir haben uns immer wieder selbst hinterfragen müssen und so unsere eigenen Argumente geschärft.
Norina: Die Tour de Lorraine erreicht unglaublich viele Leute, das motiviert einen sehr. Natürlich ist es aber ein Privileg, die Zeit zu haben, um sich dafür zu engagieren. Care-Arbeit ist ein Riesenthema, ich habe in den letzten Monaten viele neue Perspektiven darauf entdeckt.
Care-Arbeit umfasst von Kinderbetreuung bis zu Beziehungspflege enorm viele Aspekte der Gesellschaft. Wo begegnet ihr Care-Arbeit in eurem Alltag?
Norina: Bei meiner Arbeit im sozialen Bereich, aber auch im privaten Zusammenleben. Wir alle sind auf Care-Arbeit angewiesen, es stellt sich immer wieder die Frage, wie sie möglichst fair für alle organisiert werden kann.
Annelies: Am Beispiel meiner Mutter konnte ich miterleben, wie sich ein Mensch der Care-Arbeit hingibt, ohne dies je kritisch zu hinterfragen oder Rollenverhältnisse anzuzweifeln. Sie arbeitete zuvor beruflich als Pflegefachfrau und hat dies dann gegen Pflege und Betreuung im privaten Umfeld getauscht.
Laut dem Bundesamt für Statistik werden in der Schweiz jährlich 9.2 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet. Wieso sprechen wir trotzdem so selten über Care?
Annelies: Care-Arbeit ist oft unsichtbar, weil sie nicht als Arbeit erscheint. Sie ist festgefahren in einer bestimmten Rollenverteilung und wird immer häufiger ausgelagert, etwa an Migrant*innen.
Norina: Meist wird Care-Arbeit ins Private zurückgedrängt, das macht es schwierig, sich damit zu beschäftigen. Es ist aber absurd, über etwas derart Notwendiges nicht zu sprechen.
Annelies: Dieses Schweigen und Verdrängen ist es, was mich wütend macht.
Mögliche Optionen, wie etwa Löhne für Hausarbeit zu bezahlen, werden aber auch kritisch gesehen.
Annelies: Natürlich wollen wir das nicht derart rationalisieren, dass Care-Arbeit nur noch aus einem wirtschaftlichen Blickwinkel betrachtet werden soll. Manchmal hilft es jedoch, gewissen Dingen einen wirtschaftlichen Wert zu geben, um ihre Bedeutung verstehen zu können. Es braucht aber definitiv mehr Veränderungen als nur eine Bezahlung von freiwilliger Care-Arbeit.
Norina: Das ist ein komplexes Thema, bei dem ich mir meiner Meinung noch nicht ganz sicher bin und mit dem ich mich vertiefter auseinandersetzen möchte. Forderungen wie Lohn für Hausarbeit finde ich aber durchaus sinnvoll und spannend. Auf die Frage, wieviel ich arbeite, probiere ich auch immer, differenziert zu antworten, denn Care-Arbeit gehört genauso dazu wie Erwerbsarbeit.
Annelies: Solche Gedanken haben uns geholfen, das Programm der diesjährigen Tour de Lorraine zusammenstellen. Wir wollen mit den inhaltlichen Inputs auch eine Diskussion darüber anstiften.
Dieses Jahr stehen wieder von Donnerstag bis Sonntag eine Vielzahl von Diskussionen und Workshops auf dem Programm. Wie schwer war es, diese zu organisieren?
Annelies: Die grosse Herausforderung war es, dass wir den Begriff «Care» zuerst für uns erarbeiten mussten. Für bestimmte Workshopanbieter*innen war der Bezug zu Care am Anfang noch nicht vorhanden und entstand erst, als das Thema auch bei uns weiter gereift war. Andererseits war es extrem schön zu sehen, wie viele Menschen es gibt, die sich bereits mit diesem Thema beschäftigen.
In welchen Bereichen musstet ihr euch thematisch einschränken?
Annelies: Wir wollten einen möglichst breiten Einblick bieten, aber das ist uns nicht ganz gelungen. Der Behindertenbereich ist kaum vertreten. Auch die Jugendarbeit und Betreuung von Kindern fehlen.
Norina: Es ist kaum möglich, dieses Thema ganz abzudecken. Das haben wir ziemlich schnell einsehen müssen. Für Anderes fehlen uns die Ressourcen, etwa für Übersetzungen, da arbeiten wir nun mit Flüsterübersetzungen. Wir wollten eigentlich auch ein Awareness-Team stellen, das an mehreren Orten präsent ist, nun beschränken wir uns darauf, eine Telefonnummer anzubieten, die bei Bedarf gewählt werden kann.
Annelies: Allerdings wird mit Texten und Flyern auf die gegenseitige Rücksichtnahme aufmerksam gemacht, damit sich auch am Abend alle wohlfühlen können.
An wen richtet sich das Programm der Tour de Lorraine?
Norina: Ich hoffe, dass wir möglichst ein breites Publikum ansprechen können. Schön wäre es, wenn auch Menschen, denen der Begriff Care nicht viel sagt, einen Einblick erhalten.
Annelies: Wir haben unter anderem Pflegeorganisationen aus der Region angeschrieben, in der Hoffnung, Menschen zu erreichen, die die Tour de Lorraine zuvor nicht kannten.
Für viele Menschen ist die Tour de Lorraine in erster Linie ein grosses Fest am Samstagabend. Ist diese fehlende Auseinandersetzung ein Problem?
Norina: Als Problem würde ich das nicht sehen. Wir haben uns schon überlegt, wie wir das inhaltliche Thema auch am Abend präsent machen können. Etwa indem wir auf mögliche Diskriminierungen im Ausgang aufmerksam machen. Wir wollen den Gegensatz zwischen den Inhaltsveranstaltungen und dem Abendprogramm kleiner machen.
Annelies: Gleichzeitig darf nicht vergessen gehen, dass alle Besucher*innen, die für das Abendprogramm ein Bändeli kaufen, den Verein Tour de Lorraine damit fördern. Nur dadurch können wir jedes Jahr viele verschiedene Projekte und Organisationen mit finanziellen Beiträgen unterstützen.
Ihr schreibt, dass ihr das Thema Care-Arbeit aus einer «intersektionalen feministischen Perspektive» betrachten wollt. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Norina: Es existieren viele Statistiken zur Care-Arbeit. Diese zeigen, dass ein Grossteil der Care-Arbeit von Frauen*, viele davon Migrantinnen*, geleistet wird. Eine feministische Perspektive darauf heisst, kritisch auf herrschende Geschlechter- und Machtverhältnisse zu schauen. Intersektionalität ist ein Begriff, der von Kimberley Crenshaw geprägt wurde und der die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsmerkmale beschreibt…
Annelies: …Merkmale wie Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, sozialer Status. Deshalb können aufgrund der erwähnten Statistiken keine einfachen Aussagen getroffen werden, wir müssen komplexere Erklärungen schaffen.
Was bedeutet diese Perspektive für den Inhalt der Tour de Lorraine?
Annelies: Dass wir jetzt hier sitzen (lacht). Ich hätte das gerne an Männer abgegeben. Wir haben allgemein darauf geachtet, dass an den Veranstaltungen viele Frauen* zu Wort kommen und wir diese Perspektive so abbilden können. Trotzdem ist uns dies nicht immer gelungen, auch wir leben schlussendlich in unserer Blase.
Norina: Zudem haben wir beispielsweise Vorlagen für nicht diskriminierende WC-Beschriftungen entworfen und wollen Menschen in Rollstühlen den Zugang zu den Veranstaltungen möglichst gut ermöglichen. Gerne hätten wir uns selbst als Organisationsgruppe noch mehr reflektiert. Viele Perspektiven sind durch uns, durch unsere Hintergründe, geprägt. Wir alle haben Zeit für dieses freiwillige Engagement, da herrscht also auch schon eine Selektion.