Wildpflanzen am Wegrand

von Carmen Steimann 4. März 2015

In kleinen Gruppen haben Freiwillige die Quartiere nach Wildpflanzen abgesucht. Mit erstaunlichen Resultaten. Diese sind nun in der Kornhausbibliothek zu sehen.

Von regem Interesse bis Kopfschütteln: Die Freiwilligen des Floreninventars sind sich auf ihren Touren durch Berns Quartiere gemischte Reaktionen gewohnt. Von Frühling bis Herbst haben sie sich in Gruppen von zwei bis vier Personen regelmässig getroffen und Quadratkilometer für Quadratkilometer nach Wildpflanzen abgesucht. Inspiziert werden dafür öffentliche Plätze und Strassenränder, wo sich wilde oder verwilderte Pflanzen von alleine angesiedelt haben. Diese Freiwilligenarbeit ist Teil des Projekts Floreninventar der Stadt Bern, das 2013 bis 2015 im ganzen Stadtgebiet wildwachsende Pflanzen erfasst.

«Die Pilotphase ergab erstaunliche Ergebnisse,» heisst es dazu bei der Fachstelle Natur und Ökologie der Stadt Bern: «Die Pflanzenvielfalt in der Stadt ist grösser als erwartet, im Gaswerkareal beispielsweise wurden mehr als 600 Pflanzenarten gezählt. Darunter waren auch Erstfunde in der Stadt Bern und gefährdete Arten.» Nun wird auch in den übrigen Stadtteilen die Pflanzenwelt von Kartierinnen und Kartierern dokumentiert und anschliessend von Fachpersonen ausgewertet.

Länggasse unter der Lupe

Das Länggassblatt war bei einer solchen Tour mit Barbara Studer, Bibliothekarin, und Jean-Christophe Fallet, Agronom, im Länggassquartier unterwegs. Zusammen mit zwei Kolleginnen haben die zwei Mitglieder der botanischen Gesellschaft während eines halben Jahres die Länggasse buchstäblich unter die Lupe genommen. Ausgerüstet sind sie mit Leuchtgilets, Rucksack, GPS und einem ansehnlichen Stapel Bücher und Formulare. Diese Hilfsmittel sind das eine, sie wären aber nichts ohne botanisches Erfahrungswissen, Genauigkeit und einer grossen Portion Begeisterung für die Sache, die bei Studer und Fallet offensichtlich ist. «Humor ist unentbehrlich, wenn man auf einer Mülltonne oder am Strassenrand neben Hundedreck seine Bestimmungsbücher ausbreitet und nach der präzisen Bezeichnung einer Pflanze sucht», lacht Botanikfan Fallet, der im Hauptberuf in einem Westschweizer Naturpark arbeitet.

Bestimmungstricks

Die Freiwilligen des städtischen Floreninventars lieben Herausforderungen – wie das Bestimmen abgemähter Gräser oder Pflanzenarten, die man nur dank Tricks wie dem Auseinderziehen der Blätter auseinanderhalten kann. Gegen 300 Arten wurden auf den Plänen der Länggasse bereits vermerkt; etwa 3000 Wildpflanzen sind in der ganzen Schweiz bekannt.

Ausgangspunkt des Rundgangs ist die Busstation Länggasse, wo eine unansehnliche Parkanlage mit Rasen und Rosenrabatte innerhalb der Wendeschlaufe liegt. «Selbst an trostlosen Orten wie hier ist botanische Vielfalt möglich», betonen die Kartierer, die hier im Rasen zum Beispiel drei verschiedene Sorten Ehrenpreis verzeichnen konnten. Ein besonderes Highlight wächst ganz in der Nähe; eine seltene Wildorchidee, die sich in einem Grünstreifen hinter dem Tierspital ausbreitet.

Wolfsmilch auf dem Parkplatz

Barbara Studers Lieblingsfund aber ist winzig klein und die Blüte gar nur mit der Lupe erkennbar: Eine in der ganzen Schweiz seltene Wolfsmilch, die auf einem sonnigen Parkplatz mitten in der Länggasse das passende Mikroklima gefunden hat. Solche Trouvaillen begeistern die Pflanzenliebhaberin, Barbara Studer sieht ihr Engagement für das Pflanzeninventar aber auch in einem grösseren Zusammenhang: «Es geht nicht nur darum, einzelne Pflanzen zu schützen, sondern vor allem das ökologische Potenzial einer Stadt aufzuzeigen.» Die Bibliothekarin schätzt es, in der Freizeit mit anderem Fokus das Quartier zu erkunden und kann Rissen im Trottoir oder ungejäteten Vorplätzen Positives abgewinnen: «Ein paar Pflastersteine oder eine ungeteerte Strasse reichen schon aus für mehr Natur in der Stadt.»