«Wieso haben wir nicht gelernt, was fairer Sex ist?»

von Susan Reznik 3. April 2025

Sex Das «fuck fair Festival» öffnet einen Raum für Kunst und Reflexion rund um das Thema sexueller Konsens. Ein Gespräch mit den Kuratorinnen Vivianne Jeger und Lucy Neid.

Journal B: Weshalb braucht es ein Festival zu sexuellem Konsens? 

Lucy Neid: Übergriffe und sexualisierte Gewalt sind ein gesellschaftliches Problem. Eines, dass uns alle betrifft und dass wir deswegen nicht ignorieren dürfen. Es ist wichtig, dass wir anfangen uns wirklich damit auseinanderzusetzen und darüber zu reden. Das «fuck fair Festival» soll nicht moralisierend sein. Es passieren aber jeden Tag sexuelle Übergriffe. Es geht darum einen Weg zu finden darüber zu sprechen, wie Übergriffe verhindert werden können und aufzuzeigen welche Optionen es gibt, dass es keine Übergriffe mehr gibt.

Vivianne, du warst bei der ersten Ausgabe 2022 nicht dabei – was hat dich dazu motiviert, neu bei der Festivalleitung mitzuwirken?  

Vivianne Jeger: Vor drei Jahren habe ich als Besucherin an der ersten «fuck fair» teilgenommen. Ich war begeistert und fand, es sollte unbedingt noch grösser werden und so noch mehr Leute ansprechen.

Ich habe bei den Männern, die dafür verantwortlich waren, nachgefragt, weshalb sie das getan haben. Das erschreckende war: Ihnen war nicht einmal bewusst, dass ihr Verhalten übergriffig war!

Spielten da auch persönliche Erfahrungen hinein?

Vivianne: Als ich mich für das Festival vertieft mit sexuellem Konsens auseinandergesetzt habe, sind mir einige Situationen in den Sinn gekommen, in denen meine eigenen Grenzen überschritten wurden. Ich habe bei den Männern, die dafür verantwortlich waren, nachgefragt, weshalb sie das getan haben. Das erschreckende war: Ihnen war nicht einmal bewusst, dass ihr Verhalten übergriffig war! Deshalb möchte ich mit dem Festival nicht nur Tinfla-Personen einen Raum für ihre Erfahrungen geben. Sondern auch denen, die sich vielleicht manchmal übergriffig verhalten, Werkzeuge geben, um sich selbst zu reflektieren.

Tim hängt die Leuchtschrift: Fuck Fair auf
Ein Helfer gibt dem Festival den letzten Anstrich. (Foto: David Fürst)

Lucy, du hast das «fuck fair»-Festival mit Janine Flückiger ins Leben gerufen, welche dieses Jahr mit ihrer Kunstinstallation am Festival dabei sein wird. Was war Dein Antrieb, eine zweite Ausgabe in einer kuratorischen Rolle durchzuführen?

Lucy: Ich habe das Gefühl, wir wissen als Gesellschaft immer noch zu wenig über sexuellen Konsens. Dabei gäbe es viel Wissen und Praxiserfahrung dazu. Sexualisierte Gewalt ist nach wie vor ein riesiges Thema. Sexueller Konsens ist nicht die eine Lösung für dieses gesellschaftliche Problem, sondern ein Lösungsansatz. Wir wollen nicht unbedingt Antworten liefern, es geht uns mehr darum Fragen aufzuwerfen und somit Denkanstösse zu geben: Wieso haben wir nicht gelernt, was fairer Sex ist? Was ist der Unterschied zwischen einem «Oh-Upsi» ich bin zu nahegekommen und einem Übergriff?

Wieso haben wir nicht gelernt, was fairer Sex ist? Wieso begreifen wir manchmal nicht, wenn wir übergriffig sind?

Inwiefern unterscheidet sich die zweite Ausgabe des Festivals von der ersten?

Lucy: Für diese Edition haben wir viel mehr Wissen aufbereitet und uns dazu mit Fachstellen und Expert*innen intensiv ausgetauscht. Ausserdem ist das Festival um einiges grösser geworden.

Gab es politische, kulturelle oder gesellschaftliche Entwicklungen, welche Euch beim Entwicklungsprozess des Festivals geprägt und begleitet haben?

Vivianne: Seit der ersten Ausgabe des «fuck fair» im 2022 sind so viele Bücher, alleine schon in der Schweiz herausgekommen, welche sexualisierte Gewalt und auch Konsens-Fragen sehr tiefgreifend bearbeitet haben. Beispiele dafür sind Autorinnen wie Agotha Lavoyer, Natalia Wilda und Miriam Sutter. Letzten Sommer trat zudem die Sexualstrafrechtsrevision in Kraft. Das hat uns auch bestärkt in der Prägnanz und der längst überfälligen Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Lucy: Jetzt hoffen wir einfach, dass es nicht wieder 50 Jahre geht, bis sich etwas ändert. Wir können mit der Theorie und Praxis von sexuellem Konsens als Gesellschaft nämlich nur dann ansetzen, wenn anerkannt wird, dass sexualisierte Gewalt ein strukturelles Problem ist.

Vivianne: Und parallel zu diesen Entwicklungen sehen wir die Wiederwahl von Trump, trotz seiner Verurteilung zu sexuellem Missbrauch, den Fall Pelicot in Frankreich, oder die Akte P-Diddy.

Lucy: Wenn ich dann in den Medien lese und höre wie gewisse Politiker*innen weltweit täglich Sexismen und Gewalt reproduzieren, dann ist es manchmal auch schwierig, die eigene politische Arbeit nicht als Tropfen auf den heissen Stein zu sehen.

Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
40 Künstler*innen haben sich in ihren Werken mit der Thematik um sexuellen Konsens auseinandergesetzt. (Foto: David Fürst)

Neben der Wissensvermittlung steht aber auch die Kunst im Zentrum des Festivals. Wie kann Kunst dazu beitragen, ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf Konsens und Sexualität zu bewirken?

Lucy: Kunst kann Menschen einerseits abschrecken, weil sie das Gefühl haben, sie würden sie nicht verstehen. Es war uns sehr wichtig, dass aus dem Festival nicht eine elitäre Veranstaltung wird. Wir haben aber auch das Gefühl, dass Kunst viele Menschen auf verschiedenste Arten abholen kann. In der Kunst geht es um die emotionale Berührung. Oft müssen zuerst Emotionen aufkommen, damit du etwas annehmen, sich in dir etwas verändern kann.

Vivianne: Deshalb gibt es Lesungen, Diskussionen, Workshops und auch einen «Chill-Space», wo du verweilen und dir deine eigenen Notizen machen kannst. Diese kannst dort liegen lassen, damit andere sie lesen können – du kannst sie aber auch mit nach Hause nehmen, um dran weiterzudenken. Es ist hier aber auch wichtig zu erwähnen, dass wir nicht den Anspruch erheben, mit diesem Festival die eine Antwort auf alles zu liefern. Zum Teil widersprechen sich die Positionen zu sexuellem Konsens sogar innerhalb des Festivals.

Ein paar Leute finden Konsens sexy. Ein paar finden ihn unsexy. Ich finde ihn einfach nötig.

Welche künstlerischen Perspektiven des diesjährigen Festivals haben euch besonders überrascht?

Vivianne: Was mich überrascht, zum Schmunzeln gebracht und gleichzeitig ein bisschen überführt hat, ist das Theaterstück von Jeanne Spaeter, «Love Under Contract». Die Performerin hat versucht, ein Jahr nach einem «Beziehungsvertrag» zu leben. Jeanne Spaeter hat einfach alles aufgeschrieben, was «man macht», wenn man eine heteronormative, monogame Beziehung führt, zum Beispiel: beim ersten Date küsst man sich, beim zweiten geht man zusammen nach Hause, nach zwei Monaten stellt man sich den Eltern vor und so weiter.

Lucy: Eine Videoinstallation lässt Sex-Arbeiter*innen als Expert*innen von sexuellem Konsens zu Wort kommen. Gesehen habe ich das Kunstwerk noch nicht, aber ich finde es konzeptuell sehr spannend, denn diese Perspektive ermächtigt Sexarbeiter*innen und geht auch gegen ihre Stigmatisierung vor.

Queerfeministischer Raum
«In der Kunst geht es um die emotionale Berührung. Oft müssen zuerst Emotionen aufkommen, damit du etwas annehmen, sich in dir etwas verändern kann.» (Foto: David Fürst)

In den letzten Jahren, besonders seit #MeToo, ist das Thema um sexuellen Konsens in den Medien und der Gesellschaft viel präsenter geworden. Da gibt es auch Kritik, zum Beispiel: «Wenn bei allem immer nach Konsens gefragt wird, geht doch die ganze Romantik und Spontanität verloren – das ist doch unsexy.» Was entgegnet ihr solchen Positionen?

Lucy: Das ist ein sehr dummes Argument. Es ist unsexy, jemanden zu vergewaltigen! Ein paar Leute finden Konsens sexy. Ein paar finden ihn unsexy. Ich finde ihn einfach nötig.

Vivianne: Ob Konsens sexy ist oder nicht ist auch ein bisschen egal.

Lucy: Oft verstehen Menschen, die sich noch nicht tiefergehend mit dem Thema auseinandergesetzt haben – so wie ich vor vier Jahren – Konsens falsch. Ich dachte damals, ich müsste selbst für die kleinste Berührung, wie das Anfassen einer Schulter, explizit um Erlaubnis fragen. Und ja, wenn man unsicher ist, sollte man das auch tun. Aber Konsens bedeutet vor allem, wahrzunehmen, was die andere Person möchte. Wenn du jemanden nicht gut kennst, wirst du automatisch mehr fragen müssen– zum Beispiel bei einem One-Night-Stand. In einer langjährigen Beziehung, in der man sich über Jahre hinweg aufeinander eingespielt hat, nimmt man vieles intuitiv wahr. Das heisst aber nicht, dass man gar nicht mehr fragen muss oder das nichts passieren kann. Es bleibt wichtig, immer aufmerksam und respektvoll miteinander umzugehen.

Vivianne: Auch noch wichtig zu betonen ist: Es ist nicht so, dass nur wer Konsens kennt und verstanden hat, konsensuellen Sex haben kann. Es gibt ganz viele Leute da draussen, die Konsens intuitiv anwenden, ohne die Theorie zu kennen. Aber es gibt halt auch ganz viel Verwirrung über «was man denn noch machen darf» und dort setzt die Theorie zu Konsens an.

Lorenz Jost arbeitet am Licht.
«Wir wollen nicht unbedingt Antworten liefern, es geht uns mehr darum Fragen aufzuwerfen und somit Denkanstösse zu geben.» (Foto: David Fürst)

Was wünscht ihr euch betreffend sexuelle Erziehung an Schulen, gerade aus der Perspektive als Tinfla-Personen?

Vivianne: Dass die Strukturen nicht reproduziert werden, sondern dekonstruiert werden.

Lucy: Es ist ein komplexes Thema und ich glaube nicht, dass alle gesellschaftlichen Dimensionen davon im Aufklärungsunterricht abgefedert werden können. Die Kulturwissenschaftlerin Beate Absalon, die am «fuck-fair» auch eine Lesung halten wird, schreibt in ihrem Buch «Not giving a Fuck», dass wir in einer Gesellschaft leben, in der alles sexualisiert ist. Früher war Sex als Tabu die Norm. Und jetzt «muss» man Sex haben. Darum würde ich gerne jüngeren Menschen mitgeben: Du darfst Sex haben, wenn du Lust darauf hast. Du darfst Sachen ausprobieren, wichtig ist konsensuell. Aber du musst nicht. Du musst gar nichts! Du musst nicht «das erste Mal» haben. Du musst nicht deinen ersten Kuss haben. Du musst nicht etwas auf eine bestimmte Art machen. Wir dürfen das Skript brechen, ausprobieren, sanft miteinander umgehen und schauen, was alles möglich ist. Und dazu gehört die völlige Akzeptanz eines Neins. Ansonsten kreieren wir wieder eine Norm, die in Zwang und Druck abrutschen kann.

Kuratorinnen Vivianne Jeger und Lucy Neid (v.l.n.r) und Nino Urban, zuständig für Logistik und Vermittlung (unten). (Foto: David Fürst)

Habt ihr vor, das Festival in Zukunft wieder durchzuführen?

Lucy: Wir würden es unglaublich gerne noch einmal machen. Aber dazu bräuchten wir ein grösseres Budget. Wir arbeiten beide in anderen Stellen und ein solches Festival braucht viel Zeit und Geld.

Vivianne: Gleichzeitig gibt es eine sehr grosse Resonanz. Ich habe das Gefühl, die Leute wollen, dass dieses Festival stattfindet.

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