Für einmal stehen nicht die Schauspieler*innen, sondern das Publikum auf der Bühne und lauscht einer Stimme aus den Lautsprechern. Plötzlich fällt ein weisser Ball von oben auf die Bühne. Der dumpfe Klang des Aufpralls bringt das Publikum jäh in die Gegenwart. Dann ertönt die Stimme erneut: «Das ist eine Mikroaggression!»
Damit ist das Thema des Stücks bereits benannt und zugleich eine simple doch effektive visuelle Metapher etabliert. Die Tanzperformance «Perspectives» im Schlachtaustheater Bern behandelt rassistische Mikroaggressionen, ihren Einfluss auf die Psyche der davon Betroffenen und deren Umgang damit. Die weissen Bälle ziehen sich durch das ganze Stück.
Der Begriff der Mikroaggression wurde 1970 vom US-amerikanischen Psychiater Chester Pierce geprägt. Pierce bezeichnete damit als übergriffig wahrgenommene Äusserungen und Handlungen im Alltag. Mikroaggressionen werden von Angehörigen aller marginalisierten Gesellschaftsgruppen erlebt, das Konzept fand aber vor allem im antirassistischen Diskurs Verbreitung.
In ihrem Essay «Mückenstiche mit System» vergleicht Alice Hasters Mikroaggressionen mit Mückenstichen: «Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unerträglich.» Hasters führt mehrere alltägliche Beispiele an: «Das können Angriffe oder Beleidigungen sein, wie die Verwendung des N-Wortes oder Aussagen wie „Wir sind hier in Deutschland“. Es können unbewusste Handlungen sein – etwa wenn eine Frau ihre Tasche umkrallt, sobald ich mich in der Bahn neben sie setze. Aber auch das Negieren und Absprechen der eigenen Perspektive und Erfahrungen gehört dazu.»
Nachdem die Darsteller*innen ihre Plätze mit dem Publikum getauscht haben und nun ihrerseits auf der Bühne stehen, veranschaulichen sie eindrücklich und eingängig verschiedene Aspekte von Mikroaggressionen. Es gibt grössere und kleinere, im Klumpen wiegen sie schwerer und sie kommen stets unverhofft, ihr Einschlagen. Selbst in Momenten der Freude.
Am stärksten wirkt das Bild aber dann, wenn die Performer*innen Annakatharina Chiedza Spörri, Sophie Chioma Gerber, Gifti Sabrina Tekako und Eshidoreen Paradiso mit den Bällen interagieren. Sie zeigen leicht verständlich, welchen Einfluss Mikroaggressionen auf Betroffene haben und welche verschiedenen Strategien sie nutzen, um damit umzugehen. Da ist der Versuch, den Vorfall wegzustossen, nicht an sich ran zu lassen, sowie das energieraubende Ringen damit.
Da ist die Strategie, den Schmerz mit einem Lächeln zu überspielen, ihn runterzuschlucken, bis die Galle fast hoch kommt, oder ihn abzuleiten und an Unbeteiligten rauszulassen. Letztlich mündet all das nur im selben ewigen Kreislauf des Schmerzes. Als heilsam und befreiend stellen sich schliesslich Gemeinschaft und Solidarität unter Betroffenen und ihre berechtigte Wut heraus.
Eine Kritik am Kulturbetrieb
Die Choreographin Annakatharina Chiedza Spörri entwickelte die Tanzperformance in Zusammenarbeit mit dem café révolution, einem Kulturort und «Safer Space» für aktives antirassistisches Wirken, Selbstermächtigung und Bildung. Das café révolution lieferte den wissenschaftlichen Input zu Mikroaggressionen und kuratiert jeweils nach den Aufführungen einen Büchertisch zum Thema.
Neben diesen Inputs arbeitete Spörri vor allem mit den persönlichen Erfahrungen der Performer*innen und erarbeitete gemeinsam mit ihnen die Bewegungen und Muster gemeinsam. Alle auf der Bühne stehenden Personen sind Schwarz oder People of Color, wie auch ein Grossteil der abseits der Bühne Beteiligten.
Die Journalistin Alice Hasters vergleicht Mikroaggressionen mit Mückenstichen: Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unerträglich.
Damit bekämpft die Produktion auch den strukturellen Rassismus in kulturellen Institutionen, wo Menschen mit Rassismus-Erfahrungen noch immer untervertreten sind. Das Bewusstsein dafür ist zwar gestiegen, doch allzu oft stehen von Rassismus betroffene mit ihren Erfahrungen allein da. Oft wird von ihnen erwartet die antirassistische Arbeit in den Institutionen selbst zu leisten.
Solche und ähnliche Erfahrungen kommen auch am Ende der Performance zur Sprache. Direkt ans Publik gewandt, benennen die Performer*innen, was sie am Verhalten ihrer weissen Mitmenschen häufig stört. Etwa die Bequemlichkeit, wenn es darum geht die eigene Sichtweise oder den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren und anzupassen. Die Überheblichkeit, mit der sich weisse Menschen als die Norm ansehen. Die Kompliz*innenschaft mit jenen, die sich rassistisch äussern oder das Entschuldigen von problematischem Verhalten mit den Worten: «Sie sind halt noch aus einer anderen Zeit.» Darauf entgegnen die Performer*innen: «Aber sie leben doch heute? Dann sind sie auch aus dieser Zeit.»
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Es ist das zweite Mal, dass sich die Performer*innen direkt ans Publikum wenden. Beim Einlass, als das Publikum selbst auf die Bühne gebeten wurde, kommentierten sie das Geschehen mit Aussagen, wie sie von Rassismus Betroffene oft zu hören bekommen, nur umgemünzt. Sorgte dies zuerst noch für etliche Lacher, fühlt man sich beim Ende der Performance direkt angesprochen und zum Handeln aufgefordert.
Die Performance ist also gerade für Menschen ohne Rassismus-Erfahrung sehenswert und lehrreich, ungeachtet dessen, wie sehr sie sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Genauso sehenswert und heilsam dürfte es jedoch für Menschen mit Rassismus-Erfahrung sein. Mag es auch um ein schweres Thema gehen, das mit Schmerz verbunden ist, so zelebriert die Performance ebenso sehr die Resilienz, die Auflehnung und das Heilende der gemeinsamen Wut und Solidarität.
Zu unserer Schreibweise von Schwarz, People of Color und weiss, siehe das «Glossar für diskriminierungssensible Sprache» von Amnesty International.