BKA: Roger Vontobel, Sie führen Regie in einem Stück über Hannah Arendt und den SS-Obersturmbannführer in Jerusalem. 1961 stellte sich Arendt in ihrem berühmten Essay zum Eichmannprozess die Frage, wo das Böse beginnt – und was das für uns als Einzelne, aber auch als Gesellschaft bedeutet. Gibt uns Arendt beziehungsweise das Stück von Dramatiker Stefano Massini darauf eine Antwort?
Roger Vontobel : Nein. Das Böse ist komplex. Seine Anfänge sind nicht zu ergründen. Die Frage ist aber aktueller denn je. Massinis fiktiver Dialog spricht in die Gegenwart.
Die Begrifflichkeit des Bösen, die Hannah Arendt wählte, wurde immer wieder kritisiert. Besonders, weil sie von der Banalität des Bösen sprach. Die Kritik warf ihr vor, damit die Verbrechen der Nationalsozialisten zu bagatellisieren.
Was ein komplettes Missverständnis ist. Die Leute haben geglaubt, was banal ist, ist auch alltäglich, aber so hat sie es nie gemeint. Hannah Arendt benennt mit der Banalität die scheinbare Beiläufigkeit und die bürokratische Art, mit der die Nationalsozialisten und insbesondere Adolf Eichmann die Ermordung der Juden organisierte. In dem Interview mit Joachim Fest 1964 spricht sie von dem Unwillen, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist. Diese Dummheit hat sie gemeint mit der Banalität.
Einer der erschreckendsten Sätze im Stück, den Eichmann sagt, lautet: Freiheit ist eine optische Täuschung. Und das sagt der Mann, der den Mord an Millionen von Menschen plante. Ist das nicht perfid?
Jüd*innen wurden im industriellen Massenmord zu Nummern – aber eigentlich ist auch Adolf Eichmann seltsam unmenschlich. In den Gerichtsakten und im Stück weist er immer wieder die Verantwortung von sich. An einer Stelle sagt er: Wenn ich es nicht getan hätte, hätte es wer anderes getan. Und anderswo sagt er: Ich habe nur Befehle befolgt. So, als sei er selbst eine Maschine. Nehmen Sie das Eichmann ab?
Wir haben uns intensiv mit den historischen Fakten auseinandergesetzt. Eichmann hat verschiedene Gesichter. Ich glaube, dass er sich hinter dieser Willenlosigkeit versteckte – es war seine Ausrede. Ich würde eher sagen: Er war empfindungslos und entwarf ohne Skrupel den Plan für grösste Gräuel. Einer der erschreckendsten Sätze im Stück, den Eichmann sagt, lautet: Freiheit ist eine optische Täuschung. Und das sagt der Mann, der den Mord an Millionen von Menschen plante. Ist das nicht perfid? Es gibt auch Belege dafür, dass Eichmann die Macht und die Nähe zum Führer genoss.
Hannah Arendt sieht in Eichmann mehr als eine Einzelmaske. Sie spricht vom Prinzip Eichmann. Im Stück heisst es, es gibt viele Eichmanns. Gilt das auch für heute?
Ich fürchte, ja. Heute wählen 20% der Menschen in Deutschland eine Partei, die sich am äusseren rechten Rand bewegt und die Shoah relativiert. In ganz Europa gewinnen nationalistische Parteien, die sich gegen Menschlichkeit und Rechte für alle wenden. Und Menschen in den USA haben einen Präsidenten gewählt, der offen gegen Minderheiten angeht. Alle, die ihn wählen, laufen mit und geniessen die Macht eines Mannes mit, der sich weder um Rechte noch Wahrheit schert.
Glauben Sie, dass sich die Geschichte wiederholt?
Menschen, die über 70 Jahre alt sind, warnen davor. Ich finde es erschreckend, dass nur 80 Jahre nach Auschwitz viele junge Menschen nicht mehr wissen, was dort damals passierte. Es kommt nicht von ungefähr, dass sehr viele unter 25-Jährige die AfD wählten.
Im Stück treten auch Gegenfiguren auf. Zum Beispiel Sophie Scholl, die Münchner Studentin, die 1943 ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit ihrem Leben bezahlte. Arendt sagt sinngemäss: Sophie Scholl begriff, dass es nicht egal ist, was sie tut, dass es drauf ankommt, das Richtige zu tun. Arendt nennt das Würde. Wie schaffen wir es, das Richtige zu tun?
Indem wir uns immer wieder neu im Moment fragen, was es jetzt braucht, wo wir Nein sagen müssen. Das ist nicht heroisch zu verstehen, dazu braucht es kein Heldentum, das können auch wir. Es gibt eine Passage, in der Eichmann zwischen Rolle und Person unterscheidet. Arendt lehnt das kategorisch ab: Es gibt keine Rolle ohne Person. Wenn du skrupellos handelst, kannst du das nicht auf eine Rolle abschieben.
Wie werden wir nicht Eichmann?
Ich würde sagen, indem wir versuchen, nachzudenken und unsere Vernunft zu gebrauchen, ganz im Sinne Kants. Indem wir Empathie empfinden, auf Abstand von uns selbst gehen und uns in die Position anderer versetzen.
Es ist speziell und erschütternd, wenn ein Schauspieler, der drei Meter neben dir sitzt, die Worte von Eichmann sagt. Gerade das ist die radikale Freiheit und ich glaube eine wichtige Aufgabe des Theaters: mit Fiktion die Wirklichkeit zu spiegeln und auch vor Abgründen nicht zurückzuschrecken.
Kommen wir zur Inszenierung: Das Stück platziert Schauspieler Claudius Körber, der die Figur Eichmann spielt, in einen Sessel in die Mitte einer Art Arena. Hannah Arendt, gespielt von Lucia Kotikova, geht rundum und befragt ihn. Kann auch das Publikum Eichmann befragen?
Nein, auch wenn Schauspieler Claudius Körber sich intensiv mit Eichmann auseinandersetzte – er ist Claudius Körber. Er kann nicht für Eichmann antworten. Um die Fragen aus dem Publikum zu klären, laden wir Expert*innen ein, die am Ende des Stücks einordnen.
Wie nah geht es Ihnen eigentlich, wenn Körber Eichmann einen Körper und eine Stimme verleiht?
Es geht im Stück nicht darum, möglichst originalgetreu den Eichmann oder die Hannah Arendt zu geben. Und doch ist es speziell und erschütternd, wenn ein Schauspieler, der drei Meter neben dir sitzt, die Worte von Eichmann sagt. Gerade das ist die radikale Freiheit und ich glaube eine wichtige Aufgabe des Theaters: mit Fiktion die Wirklichkeit zu spiegeln und auch vor Abgründen nicht zurückzuschrecken. Das Publikum schaut sich dabei immer wieder gegenseitig an. Wir sind Teil davon – und das ist der Kern – nicht die Anderen, wir konstituieren die Gesellschaft und sind somit auch verantwortlich! Ganz nach Hannah Arendt.
Tresorplatz in den Vidmarhallen, Liebefeld
Premiere: Mi., 26.3., 20.30 Uhr (ausverkauft)
Vorstellungen bis 14.5.
Dieser Artikel ist zuerst in der Berner Kulturagenda erschienen.