Strahlender Spätnachmittag. Die Tische und Stühle des «Parlaments» stehen draussen in der Münstergasse. Hier sitzt Jürgen Theobaldy (69) und trinkt ein Weizenbier.
Bis vor vier Jahren hat er im Parlament ein bisschen weiter oben in national- und ständerätlichen Kommissionen den Radebrechereien ins Deutsche geholfen. Denn mit Sprache umgehen kann er wie selten einer: Theobaldy ist ein 68er, der sich schon früh gleichermassen ernsthaft mit den Wörtern und mit der Notwendigkeit des Widerstands befasst hat. Weil er nicht Agitator werden wollte, wurde er Lyriker in einer Bewegung, die den Kampf um die Subjektivität bestenfalls als Nebenwiderspruch in Betracht zog.
In Bern hängengeblieben
Zu Beginn der achtziger Jahre hatte er bereits ein halbes Dutzend Lyrikbände und zwei Romane auf dem Markt und war das, wovon hierzulande der Traum des belletristischen Opportunismus handelt: Er war ein deutscher Schriftsteller. 1984 ist er aus Berlin in die Schweiz gekommen und später in Bern hängengeblieben.
Nun hat er den Roman «Aus nächster Nähe» veröffentlicht: Darin wird von Richard und Gunter erzählt, zwei fast vierzigjährigen Altjugendlichen, die im Winter 1989/90 als kleinste WG Westberlins gleichzeitig eine weltgeschichtliche und eine private Übergangszeit durchleben. Während Gunter plant, sich mit Papas Unterstützung als Pasta-Produzent selbständig zu machen, sucht sich Richard, der Protagonist, seinen Weg von Provisorium zu Provisorium. Wirklich engagiert kümmert er sich nur um seine Herzensangelegenheiten: Er sucht Mona, die unvergessene Muse seiner frühen Jahre, die, wie er zufälligerweise aufschnappt, neuerdings auch in Berlin lebe. Die Muse, die er schliesslich findet, heisst nicht Mona, aber verspricht – was sonst? – eine provisorische Zukunft.
Trotz des Nicht-Erwachsenwerden-Wollens
Das Merkwürdige an diesem Roman: Er liest sich wie das dritte Stück zu den beiden frühen Theobaldy-Romanen: «Sonntags Kino» (1978) war eine Hommage an die Jugendszene in jener Mannheimer Arbeitersiedlung, in der Theobaldy aufgewachsen ist. «Spanische Wände» (1981; Neufassung 1984) beschrieb die scheiternde Beziehung eines Paars aus der linken Heidelberger Uniszene. Mannheim, Heidelberg, Westberlin – das waren auch Theobaldys Stationen, bevor er in die Schweiz gekommen ist. Zudem schwingt auch in diesem neuen Roman der gleiche Grundton mit vom Trotz des Nicht-Erwachsenwerden-Wollens und von der Sehnsucht nach einer Liebe, die so gross wäre, dass ihr keine Vernünftigkeit der Welt etwas anhaben könnte.
«Auch ich sehe diese drei Romane als Trilogie», sagt Theobaldy. Die Ausgangsidee stamme ja tatsächlich aus jener Zeit, eine erste Fassung habe er als umfangreiches Manuskript bereits 1984 in die Schweiz mitgebracht. «Das war damals der Versuch eines postmodernen Romans; der Versuch, einen Text zu schreiben, der aus lauter Aus- und Abschweifungen besteht.» Zum Beispiel habe es darin eine Szene gegeben, in der Leute die Mauer gestürmt hätten: «Richard schaut zu, stürmt mit, unter dem Ansturm der Komparsen bricht die Pseudomauer zusammen und die Megafonstimme des Regisseurs sagt: ‘Noch einmal, bitte!’» Was 1984 auf die ironisch gespiegelte Hoffnung des Autors verwiesen hat, steht nun in den Kulissen des veröffentlichten Romans als weltgeschichtliche Tatsache.
Schlanker – und doch nicht fertig
Die erste Fassung sei damals, weil unfriedigend, liegengeblieben. Seither habe er die Papiere zwischendurch immer wieder hervorgeholt. Veröffentlicht hat er allerdings anderes: Lyrik- und Prosabände und, 2003, den Bundesstadt-Roman «Trilogie der nächsten Ziele». Mit jeder Bearbeitung sei der Berlin-Roman schlanker und doch nicht fertig geworden. «Aber ich wollte ihn unbedingt abschliessen, um meine zehn Jahre Westberlin, aber auch, um ein grosses Liebeserlebnis festzuhalten. Nach fast dreissig Jahren ist mir das nun gelungen.» Vielleicht, lächelt er, habe es diese Zeit gebraucht: «Immerhin ist die Mutter der griechischen Musen Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung.»
Dass Theobaldy noch dann Dichter bleibt, wenn er einen Roman schreibt, merkt man beim Lesen schnell. Seine Prosa ist keine, die in möglichst unauffällig dahinplätschernder Sprache den Plot leicht konsumierbar machen soll. Diese Sprache lässt einen nicht vergessen, dass man liest. Redundanzen, die Leseflüchtigkeiten erlauben, gibt es kaum. Die Wörter sind präzis gewählt, die Bezüge vielfältig, die Durchblicke überraschend und die Dialoge nicht selten derart aphoristisch kurz und geistreich, dass die Pointen sich zu erschlagen drohen. Ab und zu lohnt es sich, einen Abschnitt zwei- oder dreimal zu lesen. Immer sagt die Sprache mehr, als man beim ersten Lesen versteht – welch ein Genuss in einer Zeit, in der die Publizistik immer häufiger das genaue Gegenteil für professionelle Schreibe hält. «Es ist mein Stil-Ideal, dass in möglichst jedem Satz etwas passiert, auch sprachlich, nicht nur inhaltlich – und ohne dass der Satz manieriert klingt.»
Eine schweizerische Roman-Trilogie?
Unterdessen arbeitet Theobaldy übrigens an einer längeren Erzählung, die einen Krankenversicherungsbetrug in Winterthur zum Thema hat. Er könnte sich vorstellen, nach der deutschen Roman-Trilogie nun zusammen mit dem erwähnten Bundesstadt-Roman und einem weiteren, der halbfertig in der Schublade liegt, eine schweizerische Roman-Trilogie fertigzustellen. Handeln werden diese beiden neuen Geschichten in «Veltwil», Theobaldys berndurchtränktem «Seldwyla».
Unsere Feierabendplauderei im «Parlament» hat schliesslich je drei Weizenbiere lang gedauert. Heimzu gehend habe ich mich gefragt, welcher Mann in Bern sonst fähig wäre, über die Liebe in einer Sprache zu schreiben, die in einem alternden Sonnengeflecht den Panzer der Lebenserfahrungen durchbrechen und für einen Lesemoment die eingesperrten Schmetterlinge von damals befreien könnte. Mir ist keiner eingefallen.