Die neue Direktorin der Berner Kunsthalle, Valérie Knoll, ist eine 37-jährige Kunsthistorikerin, gebürtige Baslerin, die zuletzt als Co-Leiterin der «Halle für Kunst» in Lüneburg gearbeitet hat. Ihre erste, eben eröffnete Ausstellung in der Berner Kunsthalle trägt den Titel «Raw and Delirious» und zeigt, dass sie als Kuratorin an die Kunst ernsthafte Fragen zu stellen hat, und sie so umsetzt, dass es für das Publikum nicht nur etwas zu spekulieren, sondern auch etwas zu sehen gibt.
In ihrer Ausstellungsvorschau weist sie darauf hin, dass die «massive Professionalisierung des Kunstfeldes» und die heute schier unbegrenzte Verfügbarkeit von Technologie die aktuelle Kunstproduktion ästhetisch prägt: «Immer mehr, was man sieht, lässt einen auf seltsame Weise unberührt.» Immer stärker sei Kunst geprägt von einer anonymen Ästhetik der glatt polierten Oberfläche, technisch perfekt und warenästhetisch optimiert wie industrielle Massenware. Knolls Frage an diese Entwicklung: «In welchem Mass soll künstlerische Produktion mit dem Alltag und dem Zeitgeist ineinanderfallen und inwiefern erscheint das Herstellen einer Absetzung davon dringlich?»
Kaleidoskop von Störung und Distanzlosigkeiten
«Raw and Delirious» ist eine Gruppenausstellung mit Werken von neun KünstlerInnen im Alter von 28 bis 49 Jahren (dazu gibt es Werke von Ull Hohn [1960-1995] und einen Film von Jack Smith [1932-1989]). In den Worten von Knoll geht es bei diesen Werken um ein «Kaleidoskop an Formen der Störung und Distanzlosigkeiten», um «Gesten und Objekte, die in ihrer Absonderung angreifbar sind. In denen Fragen nach dem heute ästhetisch Angebrachten und Unangebrachten laut werden. Die das Unzeitgemässe neu bestimmen. Die die Grenzen des Zumut- und Unzumutbaren strapazieren».
Beispielhaft ist die Installation «Phlegm & Fluff» von Julie Verhoeven im grossen Saal: Zu sehen ist als Projektion auf drei Wänden sich räckelnder halbnackter Boudoirmief, der Boden des Saals ist überschüttet mit den ausgekippten Habseligkeiten eines weiblichen Toilettenmessies, in der Luft scheppernder 70-Jahre-Rock und süsslicher Pudergeruch. Eine verstörende Welt, die man einigermassen fasziniert betrachtet mit dem bestimmten Gefühl: So genau hätte ich’s eigentlich gar nicht wissen wollen.
Die Wendung «Formen der Störung» steht in dieser Ausstellung für ganz Verschiedenes: für eine Installation mit Keulen und Zahnrädern, für Malerei in Art-brut-Manier; für riesige Collagen aus ausgeschnipselten Textfragmenten und breitpinseliger Malerei; für einen Einkaufswagen, gefüllt mit einer Alteisenskulptur; für eine Installation aus Lehm, Stroh und Aluminiumfolie, die den mythologischen Kampf zwischen Pygmäen und Kranichen darstellt; für einen Zeichentrickfilm, der die Veräppelung von Berlins Kunstszene zum Thema hat; für manierlich gereihte, dreidimensionale Gipsbilder, deren dunkelbraune Farbe wahlweise Schokolade oder Scheisse assoziieren soll; für eine Videoprojektion von expressiver Malerei auf ausschnitthaft gezeigten Körpern; für eine Installation mit schiefer Hütte, einem Designersessel und zwei Staubsaugern (letzteres beispielsweise interpretierbar als Kritik am neoliberalen Zwang zur Selbstoptimierung).
Absetzbewegung im Sandkasten
In den Worten der Kuratorin Valérie Knoll thematisieren diese Werke «die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer widerspenstigen Absetzung» von dem, was heute als Kunst gilt. Sicher kann man die Ausstellung auch ganz anders interpretieren, aber Knoll hat sie sich gedacht als kritische Auseinandersetzung von Kunst mit der stromlinienförmigen Kunstmarktkunst.
Wie ich nach der Medienführung über die Kirchenfeldbrücke zurück in die Altstadt gehe, habe ich unabweisbar unpassende Fragen im Kopf: Kann ein kritischer Geist, wenn er die Kritik mit seiner ganzen Kunstfertigkeit gestaltet, an einem schön drapierten Rednerpult knapp neben der Kirche mitten im Dorf tatsächlich eine kritische 1. August-Rede halten? Würde sich ein solch kritischer Geist nicht bloss einbilden, eine kritische Rede gehalten zu haben – weil es ein Selbstbetrug wäre zu meinen, das was man sage, sei stärker als der Rahmen, in dem man es sagt?
Die Ausstellung «Raw and Delirious» lädt ein, hinzuschauen und Fragen zu stellen. Wie der Titel sagt, darf ab und zu eine Frage relativ roh ins Blaue hinaus deliriert werden. Wer weiss, wozu sie gut ist.