Es ist halb vier Uhr früh und noch ist kein Mensch auf den Könizer Strassen unterwegs. Alles schläft. Nur von den Bäckereien her weht bereits ein verführerischer Duft nach frischen Gipfeli durchs Quartier. Aber die Ruhe täuscht. Denn an einem vereinbarten Treffpunkt versammelt sich nun nach und nach das Besetzer*innen-Kollektiv «Centrale Viva». «Centrale Viva» – das sind dreissig junge Menschen, die grosse Pläne für die heutige Nacht haben. Sie möchten das ehemalige Lagerhaus der Firma Vatter Samen neben dem Könizer Bahnhof besetzen.
Damit wollen sie mehr Raum für Kultur und Freiräume für Jugendliche schaffen, wie die Aktivist*innen im Gespräch mit Journal B betonen. Gerade in der Gemeinde Köniz sei das Angebot diesbezüglich dürftig. So bestünden die einzigen Kulturangebote aus den Vidmarhallen und dem Schloss Köniz. «An beiden Orten besteht nicht gross Möglichkeit, mitzugestalten», sagen Jeremias und Luna vom Kollektiv, die eigentlich anders heissen.
Anspannung und Vorfreude liegen in der Luft. Bevor sich die Besetzer*innen in kleinen Gruppen auf den Weg machen, nehmen sie nochmals Kontakt mit den sogenannten Spotter*innen auf. Diese sind nicht zum Treffpunkt gekommen, sondern beobachten bereits die Strassen und melden, falls sich jemand Verdächtiges, in erster Linie die Polizei, nähert. Dann geht es los. Über die Gleise, durch das Industrieareal hindurch, schliesslich die Stufen hoch zur Rampe und der Schiebetür.
Die Lagerhalle ist nicht besonders gut gesichert. Ein einfaches Zahlenschloss, das eine der Besetzer*innen schon seit Längerem geknackt hat. Die grosse Schiebetür öffnet sich mit einem lauten Rumpeln, das einen zusammenzucken lässt. Jedes Geräusch ist verdächtig, könnte unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Dann der Schritt ins Dunkle. In der weiten Halle erkennt man vage einige Kisten in der Mitte des Raumes. Ansonsten scheint sie leer zu sein. Das gilt auch für die restlichen Stockwerke. Nun gilt es, auf die restlichen Mitglieder des Kollektivs zu warten.
Die mehrstöckige Lagerhalle steht schon längere Zeit leer. «Wir vermuten, dass sich daran bis 2033 nichts ändern wird, dann hofft die Gemeinde nämlich, das Lagerhaus erwerben zu können», erklärt Jeremias. Momentan ist die Gemeinde Köniz teilweise zur Miete, teilweise als Baurechtsnehmerin an den Adressen Sägestrasse 65-69 vertreten. Doch die Sachlage ist etwas kompliziert.
Verstrickte Verhältnisse
Das Areal gehört einer Privatperson. Benutzt wird es allerdings von der Gemeinde Köniz und der Heiniger Kabel AG. Letztere war bis 2021 Baurechtnehmerin und Hauptmieterin der Liegenschaften. Dann begann sich die Gemeinde dafür zu interessieren. Weil sie sich mit der Eigentümerin nicht einigen konnte, beschloss sie einen Deal mit der Heiniger Kabel AG: Für 9,6 Millionen Franken sollte die Gemeinde die laufenden Miet- und Baurechtsverträge übernehmen.
Im März 2021 wurde der Deal vom Parlament und am 13. Juni desselben Jahres von der Stimmbevölkerung angenommen. Seit Juli 2021 laufen die Verträge also über die Gemeinde Köniz. Dies ist noch bis zum 30. April 2033 der Fall. Danach laufen die Verträge aus. Mit ihrem Deal hat sich die Gemeinde nun das Vorverkaufsrecht gesichert, in der Hoffnung, bis dann zu einer Einigung mit der Eigentümerin zu kommen.
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Weshalb ist es der Gemeinde so wichtig, für die Erwerbung des Grundrechts einen Fuss in der Tür zu haben? Den Grund nannte sie bereits in der Abstimmungsbotschaft vom 13. Juni 2021. Dort erachtete sie das Gebiet als «Schlüsselareal mit städtebaulichem Potential». Auf der anderen Seite des Bahnhofs, am Sonnenweg 18, besitzt die Gemeinde zudem seit fünf Jahren eine Liegenschaft.
Kein Teil der Gentrifizierung
Daher die Befürchtung der Besetzer*innen, das Gebäude werde bis 2033 leer stehen. In ihrem Communiqué schreiben sie davon, die Gemeinde habe sich das Areal gesichert, um «eine spätere Gentrifizierung sicherzustellen». Auch dagegen richtet sich also die Besetzung.
Kann eine Besetzung daran überhaupt etwas ändern? Schaut man sich Fälle wie das Fabrikool an, kann man sich dem Gedanken nicht verwehren, dass Besetzungen auf Leerstände hinweisen und die Orte für eine spätere kommerzielle Nutzung aufwärmen. Die Besetzung auf dem vonRoll-Areal endete damit, dass der Kanton das Grundstück an ein Architekturbüro verkaufte, dessen Konzept für den Ort viele Ähnlichkeiten mit jenem der Besetzer*innen aufwies. Mit dem Unterschied, dass das Gebäude kommerziell genutzt werden sollte.
Um nicht selbst Teil des Gentrifizierungsprozesses zu werden, setzten die Besetzer*innen der «Centrale Viva» von Beginn weg auf Sensibilisierung. «Je mehr Menschen sich diesem schleichenden Prozess bewusst sind, desto mehr können sich wehren, beispielsweise in Form von politischen Abstimmungen für Mietpreisbremsen, Zweckentfremdungsverboten oder Kündigungssperrfristverordnungen.» Aus diesem Grund hat das Kollektiv Sonntag in einer Woche auch ein Gespräch über Leerstand geplant.
Friedvoll als Grundsatz
Um halb fünf morgens sind die Motoren zweier Autos zu hören. Die beiden Lieferwagen haben das gesamte Material geladen, das in der Besetzung verwendet werden soll. Nun muss es schnell gehen. Paletten, Tische, Möbel, Getränke, Hängematten, gemalte Transparente, Werkzeug, sogar ein Kühlschrank und ein Ofen werden in die Lagerhalle getragen. Erst zu diesem Zeitpunkt wird einem richtig bewusst, wieviel Arbeit eigentlich hinter einer solchen Besetzung steckt und auch wieviel Arbeit noch auf das Kollektiv zukommt.
Sollte die Gemeinde bis 2033 tatsächlich keine weiteren Pläne für die Lagerhalle hegen, hätten die Besetzer*innen allerdings eine Menge Zeit, ihre Visionen zu verwirklichen. «Wir wollen so lange bleiben, wie wir können», meint Jeremias dazu. Zunächst strebten sie eine Duldung an, wenn sich später die Option für eine Zwischennutzung ergibt, seien sie auch dafür offen.
Sollte es zu einer Räumung durch die Polizei kommen, kündigen das Kollektiv an, dass sie keine Gewalt gegen Menschen anwenden werden. Dass die «Centrale Viva» eine friedvolle Besetzung sein soll, haben die Besetzer*innen denn auch in ihren Grundsätzen, die der Redaktion vorliegen, festgehalten. Daneben sind Werte wie basisdemokratisch, familienfreundlich, antikapitalistisch und ein solidarisches Miteinander aufgeführt.
Zudem sei die Besetzung ein Inklusionsprojekt, das antirassistisch, queerfeministisch und antiableistisch sein soll. «Wir wollen die Räume für alle zugänglich und barrierefrei gestalten», erläutert Luna. Eine rollstuhlgängige Rampe sei etwa schon in Planung. «Zudem wollen wir einen TINFLA*-Space einrichten», sagt Luna weiter. TINFLA steht für trans, inter, nonbinär, Frauen, Lesben und agender Menschen, also jene, die besonders stark von patriarchaler Unterdrückung betroffen sind.
Büetzer*innenzmittag und Senior*innenkaffi
Um fünf Uhr wird in der ganzen Lagerhalle das Licht angeschaltet. Gleichzeitig steigen einige Besetzer*innen auf das Dach und hängen Transparente vom Turm herunter. «Besetzt» steht darauf, «Centrale Viva» und «Die Häuser denen, die sie beleben». Nun ist es offiziell, auch wenn das im Morgenrot vor sich hinschlummernde Köniz noch nichts von seinem Glück weiss: Hier soll ein Kulturort entstehen.
Davon erfahren werden die Könizer*innen wohl zuallererst durch das Communiqué, welches das Kollektiv nachts in den Briefkästen verteilt hatte. In diesem Communiqué steht viel von Mitgestaltungsrecht und davon, dass die «Centrale Viva» ein offener Raum für alle sein soll, die ihn nutzen wollen. Doch wie erreicht man Leute ausserhalb der eigenen Blase und motiviert sie, den Ort mitzugestalten?
«Zuerst mobilisieren wir nicht nur via Soziale Netzwerke, sondern auch durch Flyer, Plakate und Hefte», schreiben die Besetzer*innen auf Anfrage. Und weiter: «Wir versuchen stark uns mit unserem Auftreten und der Kommunikation nicht in eine extreme Ecke drängen zu lassen, sondern ein Bild zu vermitteln mit dem sich möglichst viele identifizieren können.» Das beinhalte auch die Ablehnung von Gewalt gegen Personen und Kompromissbereitschaft gegenüber Behörden.
Zudem wollen die Besetzer*innen in verschiedenen Sprachen kommunizieren, damit Personen, die kein oder wenig Deutsch sprechen ebenfalls die Möglichkeit haben, sich einzubringen. Niederschwelligkeit soll ausserdem ein anonymer Briefkasten garantieren: «Dort können Feedback und Wünsche genauso wie über unsere Mail geäussert werden, ohne direkt mit einer Person von uns in Kontakt treten zu müssen.»
Damit die Besetzter*innen von Beginn an mit den Leuten um sie herum in Kontakt treten können, haben sie für die ersten sechs Tage ein breites Programm geplant. Neben kulturellen Veranstaltungen wie Konzerte beinhaltet es Dinge wie ein Büetzer*innenzmittag, ein Senior*innenkafi und einen Eltern-Kind-Mittagstisch.
Auf allfällige Probleme vorbereitet
Bis auf Weiteres werden die Besetzer*innen allerdings nicht alleine auf dem Areal sein. Die Heiniger Kabel AG hat zwar ihr Miet- und Baurecht auf die Gemeinde übertragen, doch sie sind immer noch zur Untermiete in ihren Räumlichkeiten.
«Dessen sind wir uns bewusst», sagt Jeremias, «auch dass es Verbindungstüren zwischen der Lagerhalle und der Heiniger Kabel AG gibt.» Diese werden sie so schnell wie möglich verschliessen und die Kabel AG darauf hinweisen, dass sie ihrerseits Schlösser anbringen sollen. «Wir wollen die Leute nicht in ihrem Arbeitsalltag stören.»
Allgemein scheinen sich die Besetzer*innen schon eingängig mit allfälligen Problemfeldern auseinandergesetzt zu haben. «Wir wissen, dass es an der Fassade Asbest hat und im Dachgeschoss einige Löcher und eingeschlagene Fenster zu reparieren sind», sagt Jeremias.
Die Lagerhalle ist ausserdem denkmalgeschützt. Der 1935 erstellte Bau ist das Erstlingswerk des Architekten Hans Brechbühler, der später die Gewerbeschule in Bern entwarf. «Auch diesem Fakt werden wir in unserem Umgang Rechnung tragen und entsprechend keine Änderungen vornehmen», erklären die Besetzer*innen.
Das Kollektiv hat es geschafft. Die Lagerhalle ist besetzt, zumindest vorerst. Emsige Aktivität erfasst nun das ganze Gebäude. Es wird gehämmert, gesägt, geputzt und aufgebaut. Die Verbindungstüren werden verbarrikadiert, die Toilette eingerichtet, Lichterketten im Treppenhaus aufgehängt und die Teppiche im Awareness-Raum ausgelegt. Die Bar wird eingerichtet, der Kühlschrank ans Stromnetz angeschlossen. Alle haben etwas zu tun, für Pausen bleibt wenig Zeit. Um neun Uhr wollen sie schon zu Kaffee und Tee einladen können. «Es fühlt sich noch etwas surreal an», meint Luna, «dass wir jetzt wirklich dieses Haus besetzt haben.» Draussen ist mittlerweile die Sonne aufgegangen und taucht die «Centrale Viva» in goldenes Licht.