Wie ich meine Muttersprache verlor

von Dmitrij Gawrisch 25. Februar 2025

Ukraine-Krieg Der russische Angriffskrieg jährt zum dritten Mal. Mit dem Kriegsausbruch hat die Familie des Schriftstellers Dmitrij Gawrisch die Sprache gewechselt – die russische abgestreift, die ukrainische angezogen. Er fragt sich: Warum zögere ich?

Ich verliere meine Sprache, seit drei Jahren tröpfelt sie aus mir heraus, Wort für Wort. Was schade, aber vielleicht nicht so schlimm wäre, wenn es sich um irgendeine Fremdsprache handelte, die mir in der Schule gegen meinen Willen eingetrichtert wurde. Aber die Sprache, die mir gerade abhandenkommt, ist meine allererste Sprache, die Sprache meiner Mutter, meine Muttersprache: Russisch. Besonders liebevoll bin ich mit ihr nicht umgegangen, das gebe ich zu, wollte viele Jahre lang so wenig wie möglich mit ihr zu tun haben und stattdessen möglichst sprachmächtig, akzentarm und wortreich in der deutschen Sprache ankommen. Meine Mutter ist Germanistin, nicht mal mit ihr musste ich also zwingend «unsere» Sprache sprechen.

Die Muttersprache kehrte erst zu mir zurück, als ich drauf und dran war, selbst Vater zu werden. In einem ausladenden Hotelbett ausgerechnet der westukrainischen, stramm ukrainischsprachigen Stadt Lwiw ruhten wir uns gerade von einem viel zu frühen Herflug aus, unter meiner Hand strampelte im Bauch meiner damaligen Partnerin das kommende Kind, da fragte sie mich, in welcher Sprache ich mit ihm eigentlich sprechen wolle. Ich hatte mir das noch gar nicht überlegt. «Schweizerdeutsch?», versuchte ich, aber sie widersprach: «Willst du nicht Russisch mit ihm sprechen? Damit er auch Zugang zu deiner ukrainischen Herkunft hat.»

Eine Sprache stelle ich mir manchmal als Pflanze vor: Wenn man sie nicht wässert und düngt, verkümmert sie über kurz oder lang.

Es war Mittagszeit am 21. November 2013 und von heute aus gesehen vielleicht die allerletzte Gelegenheit, mit halbwegs reinem Gewissen die Adjektive ukrainisch und russisch in einem Atemzug zu nennen. Denn während wir dieses elterliche Gespräch über die Sprachen des künftigen Kindes führten, beschloss die damalige prorussische Regierung in Kyjiw auf Druck Moskaus, die Europa-Annäherung zu stoppen, was in der Folge zu landesweiten Protesten führte, über hundert Toten auf dem Kyjiwer Maidan, der russischen Besetzung der Krym, dem Kriegsausbruch im Donbas.

Dennoch dachte ich weiterhin, ich könne es verantworten, dem Kind Russisch beizubringen, beharrte hartnäckig darauf, Sprache und Politik trennen zu können, zu wollen, ja zu müssen – schliesslich ging es hier um meine Muttersprache, um mit dem Herzen gehörte Kindheitsklänge. Vom russischen Überfall der gesamten Ukraine konnte ich da natürlich noch nichts ahnen. Der Angriffskrieg verändert für mich alles, es kann, ja darf kein Pardon mehr geben, die Hunderttausenden von Toten, die Abermillionen von Vertriebenen, die unzähligen vom Angesicht der Erde gebombten Städte, all die Minen, die, egal wann und wie dieser Krieg nun endet, noch jahrelang töten und verstümmeln werden, sie strafen sämtliche Ausreden, die einem vielleicht noch einfallen mögen, Lügen.

Meine Vatersprache ist Ukrainisch, wenn ich all das täte, was ich anlässlich der Geburt des ersten Kindes mit dem Russischen tat – sprechen, hören, lesen –, wäre es im Nu zurück, würde in ungekannter Pracht erblühen.

Eine Sprache stelle ich mir manchmal als Pflanze vor: Wenn man sie nicht wässert und düngt, verkümmert sie über kurz oder lang. Nachdem wir damals, am 21. November 2013, beschlossen hatten, dass ich Russisch mit dem Kind sprechen würde, begann ich mich um meine Muttersprache zu kümmern. Nicht nur nutzte ich sie wieder, ich las auch vermehrt Bücher auf Russisch (vor), wir sahen uns russischsprachige (Trick-)Filme an, die vernachlässigte Muttersprache trieb erneut aus. Zugleich ist Sprache nicht einfach eine Ansammlung von Vokalen und Konsonanten, mit denen bestimmte Bedeutungen verknüpft sind, sie prägt unsere Wahrnehmung und Weltanschauung, Sprache transportiert Geschichte, formt Identität, bildet das Denken. Sprache ist Liebe. Und zugleich ist sie der Grund für ausnahmslos jedes Verbrechen, das im Laufe der Menschheitsgeschichte begangen wurde. Sprache ist niemals unschuldig, und im Fall der russischen kann ich das nicht länger leugnen.

Ich ertrage es nicht mehr, Russisch zu lesen, und Russisch mit russländischem Akzent zu hören, im Fernsehen oder im Bus, bereitet mir, unabhängig vom Inhalt, Ekel: Blut klebt an den vertrauten Wörtern. Und wenn in meiner Nähe Ukrainisch gesprochen wird, dann schäme ich mich für mein Russisch und verstumme entweder oder, wenn mit den Kindern unterwegs, wechsle ins Schweizerdeutsche. Ich finde auch kein anderes, «unschuldiges» Russisch, das mich befreien, enthemmen würde: Ist das Russisch der Sowjetdiktatur etwa besser? Oder das Russisch des Zarenreiches. Ich kann meine russische Sprache nicht mehr giessen, und so trocknet sie Wort für Wort aus, wird immer ärmer, spröder, blasser. Und sie ist keine Muttersprache mehr: Mit Kriegsausbruch hat meine Mutter, wie so viele andere Ukrainerinnen und Ukrainer, ihre Sprache gewechselt, die russische abgestreift, die ukrainische angezogen (ja, diesen Ausweg haben wir, wir sind zum Russischen nicht verdammt). Warum zögere ich dann noch?

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Meine Vatersprache ist Ukrainisch, wenn ich all das täte, was ich anlässlich der Geburt des ersten Kindes mit dem Russischen tat – sprechen, hören, lesen –, wäre es im Nu zurück, würde in ungekannter Pracht erblühen. Es ist eine bittere Ironie: Als ich Ende der Nullerjahre meinen schweizerischen Pass erhielt, erstritt ich vor Gericht, wieder so zu heissen wie bei meiner Geburt, in der russischsprachigen Sowjetunion. Konsequenterweise müsste ich mit dem Wechsel zum Ukrainischen auch zur ukrainischen Variante meines Namens zurückkehren, zu Dmytro Havrysh anstelle von Dmitrij Gawrisch. Und noch etwas lässt mich zögern: Ich will dem Kind eine seiner Sprachen nicht wegnehmen, seine Vatersprache. Seitdem meine kriegsgeschädigten Eltern sich weigern, bin ich der einzige, der mit ihm noch Russisch spricht, dieses karge, verhungernde Russisch, das immer mehr zu unserer Privatsprache verkommt.

Ich ertrage es nicht mehr, Russisch zu lesen, und Russisch mit russländischem Akzent zu hören, im Fernsehen oder im Bus, bereitet mir, unabhängig vom Inhalt, Ekel: Blut klebt an den vertrauten Wörtern.

Andererseits ist das Kind inzwischen elf Jahre alt, man kann – noch, bevor die Pubertät einbricht – mit ihm reden, das Für und Wider abwägen, gemeinsam entscheiden. Es wäre auch die Entscheidung für seinen kleinen Bruder: Er wurde 2023, im Sommer der ukrainischen Gegenoffensive, «dem Sommer der Hoffnung», geboren und trägt die ukrainische Sprache bereits im Namen. Um keinen Unterschied zwischen den Kindern zu machen, spreche ich auch mit ihm Russisch, schreibe die Fehlentscheidung vom 21. November 2013 immerzu fort. Ist jetzt, wenn sich morgen der russische Angriffskrieg zum dritten Mal jährt, endlich die Zeit gekommen, den Irrtum zu korrigieren? Statt über den Verlust der russischen zu klagen, die Vergangenheit loszulassen und die ukrainische Sprache zu umarmen, die neue Muttersprache? Nicht anders im Übrigen, als ich seinerzeit die deutsche Sprache umarmt habe: nicht meine erste, aber meine beste.

Dieser Beitrag erschien zuerst beim Magazin Reportagen (#81, März 2025).