Es ist Dienstagnachmittag. Die Sonne bescheint die Fassade des Kunstmuseums Bern in der Hodlerstrasse, als wollte sie Passanten wie ein grelles Scheinwerferlicht auf eine besondere Ausstellung hinweisen. Und im Innern ist die Schlange vor der Kasse tatsächlich erstaunlich lang für einen gewöhnlichen Wochentag. Doch das Warten auf die violette Eintrittsplakette lohnt sich: Auf zwei Etagen zeigt die Ausstellung einen Rückblick auf das lebendige, nicht so einfach zu kategorisierende Schaffen einer der bedeutendsten Schweizer Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts. Die Zusammenstellung der Ausstellung geht auf zwölf grossformatige Zeichnungen von Meret Oppenheim zurück. Auf ihnen zeichnete sie eine Auswahl ihrer Werke in Miniatur und gestaltete so daraus eine imaginäre Ausstellung. 1984 zeigte Oppenheim eine Version dieser persönlichen Auslese in der Kunsthalle Bern. Übergrosse Bilder der damaligen Ausstellungsräume tapezieren nun die Wände im mittleren Treppenbereich des Kunstmuseums und schaffen eine fotografische Verbindung zu damals.
Kein Material, das es nicht wert wäre
Die heutigen Ausstellungsräume sind dunkelgrau gestrichen. Satte Beleuchtung gibt den Arbeiten die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Es ist eine Ballung an Bildern, Skulpturen und Zeichnungen, die sich dem Besucher präsentiert und ihn mitnimmt in eine Welt der Lebendigkeit und des künstlerischen Talents. Aus allen möglichen Materialien und Kunstmitteln machte die Schweizer Surrealistin, die sich selbst nie viel aus Einordnungen in eine bestimmte Stilrichtung machte, verblüffende, traumwandlerisch gekonnt umgesetzte Werke, die zum Staunen, Schmunzeln und zur Demut anregen. Aus einem Bierhumpen und einem Stück Pelz wird ein Eichhörnchen, das wiederum in starkem Kontrast zu einem komplexen, detailliert gemalten Ölbild mit einem mythischen Motiv steht.
«Das ist von den Farben her, auch noch stark», sagt ein grauer Schopf im Flüsterton zu seiner Begleiterin und fasst sich an die kleine Umhängetasche. Es sieht ein wenig aus, als müsste er sich an etwas halten, um dieser überbordenden schöpferischen Kraft Herr zu werden. Meret Oppenheim arbeitete mit Ölfarben, Gouache, Bleistift, Farbstifte, Aquarell und Tusche auf Gips, Holz, Leinwand, nutzte Terrakotta, Blattgold und Buchbinderpapier, um ihrer Fantasie Raum zu geben (und um nur einige zu nennen).
Nicht zu kategorisieren
Die Lüftung schnurrt. Eine Gruppe Studenten der PH Bern trampelt über metallene Treppen wie eine Horde Elefanten. Besucher flüstern, andere genieren sich nicht, in einer Lautstärke die Werke zu diskutieren, als sässen sie in der nahen Turnhalle bei einem Bier. Frauen sind in der Mehrheit, viele spazieren in kleinen Gruppen durch die Räume. Eine Dame, die das Haar zwar kurz trägt, aber nicht im radikalen Bürstenschnitt wie die späte Oppenheim, raunt ihrer Freundin zu: «Da ist wieder so ein Zentrum. Beim anderen Bild war das doch auch so.» Sie stehen vor dem Ölbild Steinfrau, das die Künstlerin 1938 als 25-Jährige malte und versuchen zu verstehen, was es für Gemeinsamkeiten im Œuvre gibt. Und setzen sich damit einer Aufgabe aus, an deren sich schon die Kritiker vor Jahrzehnten abmühten, weil vielleicht genau das nicht möglich ist. Oppenheims Werk betört durch seine Vielschichtigkeit und zeigt, dass sich die Meisterin der Arbeits- und Experimentierfreude nie Grenzen setzte, sondern einfach erschuf und mit dem arbeitete, was sie gerade beschäftigte. Sei es durch Inspiration von C. G. Jungs Texten oder etwas, das aus der Beschaffenheit eines Materials entsteht, wie zum Beispiel das sensible Assemblage-Bild Toter Falter von 1946, bei dem sie mit kleinen Schieferplatten arbeitete.
Hier herrscht kein Kastengeist
Oft ist es subtiler Humor, manchmal auch ein bisschen Ironie, die Oppenheim mit einem starken Gefühl für Ästhetik und Sicherheit in der Ausführung kombiniert. Wenn Sie Teigwaren in einer Box so auslegt, als seien sie Ameisen, die zu einem Loch streben, spürt man das Krabbeln im ganzen Körper. Und so findet sich eine Vielzahl an Trouvaillen, die es zu entdecken und erleben gilt. Die Flut an Kunst, und die Uneinheitlichkeit erinnern an eine Gruppenausstellung, wo so viel Unterschiedliches zusammen kommt und sich ergänzt oder beisst. Meret Oppenheim schaffte das alles ganz allein. «Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen», sagte sie in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Basler Kunstpreises 1975. Wie wahr! Und wer sie noch nicht gesehen hat, sollte sich die Freiheit nehmen, die Retrospektive zu besuchen und die Augen aufzureissen. So wie ein Mann, der vor einer Röntgenaufnahme von Oppenheims Schädel steht und mit dröhnender Stimme zu seiner Begleiterin sagte: «Riesling ist am besten», nur um dann mit entschuldigender Stimme anzufügen: «Ups, jetzt sind wir abgewichen.»
Meret Oppenheim hätte diese Szene bestimmt gefallen, war das Abweichen von Einengung in allen Formen doch ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. «Hier herrscht kein Kastengeist», schrieb sie in einem Gedicht von 1933, was vielleicht ein ebenso guter Titel für die Schau ihres Lebenswerkes gewesen wäre.
Die Ausstellung Meret Oppenheim – mon exposition ist noch bis am 13. Februar 2022 im Kunstmuseum Bern zu sehen.