Wie die koloniale Geschichte bis heute nachwirkt

von Nicolas Eggen 27. Januar 2022

Die letztjährige Ausgabe der Tour de Lorraine setzt sich in diesem Jahr fort, weil einige Veranstaltungen 2021 wegen Corona verschoben werden mussten. Unter dem Motto «Köpfe und Herzen dekolonisieren» fanden und finden verschiedene Veranstaltungen statt. Darunter Vorträge, Ausstellungen, Filme und Lesungen.

Der Auftakt der diesjährigen Tour de Lorraine fand am Freitag 14. Januar in der Heitere Fahne in Wabern statt. Die Veranstaltung stiess auf ein grosses Interesse und entsprechenden grossen Andrang, sie war komplett ausverkauft. Im Vortrag des Politikwissenschaftlers und Umweltingenieurs Malcom Ferdinand wurde sein preisgekröntes Buch «Dekoloniale Ökologie, Gedanken aus der karibischen Welt» vorgestellt. Er untersucht darin, wie struktureller Rassismus, Kolonialismus und Natur miteinander verbunden und mit unserem Alltag verknüpft sind. Ergänzt wurde der Vortrag mit einer anschliessenden Diskussion von verschiedenen Expert*innen und Aktivist*innen, welche die Thematik aus ihrer Disziplin und ihrem Blickwinkel beleuchteten.

Französische Überseegebiete als Überbleibsel des Kolonialismus

Malcom Ferdinand stammt aus Martinique, einer karibischen Insel, welche offiziell zu Frankreich gehört, genauer zu den französischen Überseegebieten. Dies diente denn auch gleich als Einstieg ins Thema. Denn wer sich Frankreich vorstellt, denkt oft nicht daran, dass Frankreich viele Überseegebiete auf der ganzen Welt besitzt, von verschiedenen Inseln in der Karibik, über La Réunion im Indischen Ozean bis zu Französisch-Polynesien im Pazifik, um nur einige zu nennen. So führt Ferdinand aus, dass 80% der Biodiversität von Frankreich sich in Überseegebieten befindet und zusätzlich sind 97% der maritimen Fläche von Frankreich in diesen Überseegebieten. Neben den geopolitischen Interessen, welche Frankreich mit diesen Gebieten weiterhin verfolgt, lässt sich aber auch fragen, ob die Menschen, die in diesen Überseegebieten leben, auch ein Mitspracherecht besitzen, wenn es um die globale Klimakrise und deren Bewältigung geht, welche die Überseegebiete meist akuter bedroht als beispielsweise die Länder in Europa.

Verbindungen zwischen Umweltbewegung und dekolonialer Bewegung

Ferdinand kritisiert, dass die Umweltbewegung und die dekoloniale Bewegung als zwei verschiedene, voneinander unabhängige, Probleme angeschaut werden und er versucht in seiner Forschungsarbeit die etlichen Verbindungen aufzuzeigen, welche zwischen den zwei Themen bestehen. So zeigt er beispielsweise auf, wie die Gründerväter der ökologischen Bewegung, wie Rousseau und Thoreau aber auch John Muir, der als Gründer der Nationalparks in den USA gilt, in ihren Schriften die soziale, politische und historische Komponente des Kolonialismus ignorieren. Nehmen wir das Beispiel der Nationalparks: Der Gedanke, man müsse die Natur bewahren und diese müsse wild bleiben, entstand zur gleichen Zeit als man den Ureinwohner*innen Amerikas ihr Land raubte, einen systematischen Genozid an ihnen ausübte und sie in Reservate schickte. Ferdinand zeigte in seiner Präsentation auf, wie die ökologische Diskussion schon von Anfang an aus einer riesengrossen Ungleichheitsposition startet und wie unser kapitalistisches System auf dem System des Kolonialismus basiert.

Neben Ferdinand gibt es etliche weitere Wissenschaftler, welche dies bestätigen, wie beispielsweise Sven Beckert, welcher in seinem Buch «King Cotton: Eine Geschichte des globalen Kapitalismus» anhand der Baumwolle aufzeigt, dass der heutige Industriekapitalismus nur entstehen konnte, weil vorher schon ein weltumspannendes koloniales System existiert hatte und sich aus diesem heraus weiterentwickelte. Davon profitierte auch die Schweiz: Sie importierte laut Hans Fässler, der die Geschichte der Beziehung der Schweiz und der Sklaverei seit vielen Jahren untersucht, im 18. Jahrhundert mehr Baumwolle als England. Er betont auch, dass der Sklavenhandel eine Schlüsselindustrie war, die die Produktion vieler Waren überhaupt erst ermöglich hat. Zugespitzt kann man sagen: Ohne die von Sklaven gepflückte Baumwolle wäre die Industrialisierung der Schweizer Textilproduktion nicht möglich gewesen.

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Dieses hochkomplexe Thema mag auf den ersten Blick etwas abstrakt wirken. Ferdinand schafft es aber sowohl in seinem Vortrag als auch in seinem Buch, die Verbindungen anhand von kleinen, konkreten Beispielen zu veranschaulichen. So stammte beispielsweise das Uran, welches für die Herstellung der Atombombe von Hiroshima benötigt wurde, aus dem, wie es damals hiess, belgischen Kongo. Oder er zeigt auf wie die Diskussion um Verhütungsmittel und Geburtenkontrolle im globalen Süden, eine koloniale Denkweise in sich mitträgt und diese weiter propagiert. Folgt man dieser Logik, könnte nämlich der Eindruck entstehen, die globale Klimakrise sei durch den unkontrollierten Bevölkerungswachstum im globalen Süden entstanden und ignoriert dabei die eigentliche Verantwortung, welche die reichen Länder dieser Welt haben, indem sie ihr koloniales und anschliessend kapitalistisches System der Welt aufzwangen, welches Ferdinand zufolge der wahre Grund für die globale Klimakrise ist. Ferdinand plädiert dafür, dass die Länder des globalen Südens in den internationalen Klimakonferenzen nicht nur mitreden, sondern auch aktiv mitbestimmen sollen und ihre Stimmen nicht weiter ignoriert werden dürfen.

Diskussion und Selbstreflexion

In der anschliessenden Diskussion wurde das Thema noch aus verschiedenen Blickwinkeln und wissenschaftlichen Disziplinen beleuchtet. Beispielsweise wurde gezeigt, wie die globalisierte Intensivlandwirtschaft mit riesigen Gewächshäusern und Bewässerungssystemen die Böden so stark ausnutzt, bis diese komplett ausgetrocknet sind. Somit kann auch der persönliche Konsum von Tomaten aus Marokko, welche wir hier im Winter in den Supermärkten einkaufen können, hinterfragt werden. Denn alles ist miteinander verknüpft und jeder noch so kleine Schritt, kann einen grossen Unterschied machen.

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Die Veranstaltung stiess auf ein grosses Interesse. (Foto: Nicolas Eggen)

Die Diskussion fand auf einem anspruchsvollen Niveau statt und erwartete einiges an Vorwissen von dem 100-köpfigen Publikum im Saal der Heiteren Fahne. Dementsprechend kam der zum Schluss folgende offene Austausch mit dem Publikum nur zögerlich ins Rollen. So dürfte die Veranstaltung auch viele Fragen aufgeworfen und nicht nur beantwortet haben. Als Auftakt für eine Veranstaltungsreihe zu einer solch vielschichtigen Thematik sollte das aber durchaus erlaubt sein.