Auf dem Kornhausplatz herrscht trotz des trüben Wetters reger Betrieb: Velos fahren vorbei, Menschen hasten unter Regenschirmen über den Platz, und unter den Lauben sitzen zwei ältere Damen und trinken gemütlich Kaffee. Unvorstellbar, dass hier noch bis 1950 der sogenannte «Knechtenmarkt» stattgefunden hat, wo arme Menschen fein gekleideten Bauern ihre Dienste als Knechte oder Mägde angeboten haben.
«Sich hier vor den Augen aller Passanten zu verdingen, war natürlich erniedrigend und hatte zudem etwas Anrüchiges, weil automatisch angenommen wurde, die fragliche Person sei von ihren Meistersleuten davongejagt worden», erläutert der Historiker Daniel Schläppi, der den Stadtrundgang «Kehrseiten» im Auftrag der Betroff enenorganisation «netzwerk-verdingt» recherchiert und zusammengestellt hat. Der Kornhausplatz ist eine von insgesamt acht Stationen.
Traurige Tradition
Auf dem Stadtrundgang bekommen die Teilnehmenden einen Einblick in die jahrhundertelange Tradition des Verdingwesens im Kanton Bern. Administrative Zwangsmassnahmen sind keine neue Erfindung – im Gegenteil. Die ältesten überlieferten Verdingmandate stammen aus dem 15. Jahrhundert. Zu den Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung des Rundgangs sagt Daniel Schläppi: «Wir zeigen etwas, das man eigentlich nicht sieht. Deshalb reden wir von ‹Kehrseiten›. Das andere Problem: Viele ehemalige Zwangsanstalten stehen heute nicht mehr.»
Hinter den Mauern schufteten die Strafgefangenen, davor spazierte das Bürgertum.
In diesen Fällen hat Daniel Schläppi viel historisches Bildmaterial dabei. Etwa zum sogenannten «Schallenhaus», das 1615 am heutigen Bollwerk errichtet und bis 1856 als Zuchthaus für Frauen und Männer betrieben wurde. Hinter den Mauern schufteten die Strafgefangenen, davor spazierte das Bürgertum. Statt sich um die Armen zu kümmern, produzierte der Rechtsstaat zunehmend Delinquenten, welche unter rigorosem Sanktionsregime zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden – etwa im Strassenbau.
Gesellschaftliche Verantwortung
Seit dem 16. Jahrhundert war die Armenfürsorge Sache der Gemeinden. Geld war keines vorhanden. Und die Bessergestellten, die in den Gemeinden das Sagen hatten, waren nicht bereit, eine Armensteuer zu bezahlen. Das Verdingwesen war – so brutal es auch klingt – die günstigste Lösung im Umgang mit den armen oder nicht genehmen Mitgliedern der Gemeinde. Es sollte erst 1981 verboten werden. Bis dahin, und sogar noch nach 1981, galten Bevormundungen und Fremdplatzierungen als probate Mittel, um gegen Armut vorzugehen.
«Das Schreckliche daran ist, dass die Repression aus der Mitte der Gesellschaft kam.
Besonders Mütter von unehelichen Kindern und die unehelichen Kinder selbst standen in der Schusslinie. Kinder wurden in Kinderheimen und mit dem Schuleintritt bei Bauern fremdplatziert, wo sie isoliert von ihren Eltern und Geschwistern bis zum Schulende Verdingkinder blieben und unter schwersten Bedingungen Sklavenarbeit leisten mussten. Hunger, Diskriminierung, Gewalt und sexuelle Übergriffe gehörten oftmals zur Tagesordnung. Die Möglichkeit, eine Berufsbildung zu machen, erhielten nur die wenigsten. Viele wurden ein Leben lang als Knechte und Mägde als billigste Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausgebeutet.
«Das Schreckliche daran ist, dass die Repression aus der Mitte der Gesellschaft kam», gibt Daniel Schläppi auf dem Weg zum nächsten Standort zu bedenken. «Treibende Kraft war die Dorfgemeinschaft. Dazu gehörte der Pfarrer, aber auch Nachbarn und Verwandte. Jeder kannte jeden, man denunzierte sich gegenseitig. Alle wussten Bescheid, was passierte. Das Verdingwesen war gesellschaftlich akzeptiert.» Das heutige Entsetzen über die Grausamkeiten, denen die Betroffenen ausgesetzt waren, mutet den Historiker deshalb scheinheilig an. Fakt ist: Tausende von Menschen wurden entmenschlicht – und das ganze Dorf sah dabei zu.
Tausende von Menschen wurden entmenschlicht – und das ganze Dorf sah dabei zu.
Im 19. Jahrhundert war Armenpflege noch weitgehend Freiwilligensache. In der Stadt Bern herrschte ein dichtes Überwachungsnetz: 1888 gab es 20 Quartiervorsteher und 77 Aufseher, die Missstände meldeten. «Mit der Zeit erfolgte eine Professionalisierung», schildert Daniel Schläppi vor dem Gebäude an der Predigergasse 10, wo heute das Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz, die frühere Vormundschaftsbehörde der Stadt Bern, untergebracht ist. «1920 wurden die Personendossiers eingeführt, nicht zuletzt, um zu verhindern, dass die Leute an mehreren Orten Geld abschöpften.»
Doch für die allermeisten Betroffenen galt: einmal Fürsorgefall, immer Fürsorgefall. «Viele wurden zu Gefangenen des Systems.» So lagern im Stadtarchiv der Stadt Bern heute rund 40 000 Dossiers von historischen Fürsorge- und Vormundschaftsfällen. Ein Blick in die Dossiers führt die meist fadenscheinigen Begründungen zutage, unter denen Menschen Opfer von administrativen Versorgungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geworden sind – mit massiven Auswirkungen auf deren Leben und Nachkommen.
Geschichte durch Erinnern
Eins der zentralsten Anliegen aus Sicht der Betroffenen ist das Erinnern und Nicht-Vergessen. Deshalb initiierte Walter Zwahlen, ehemaliger Präsident der Betroffenenorganisation «netzwerkverdingt», den Rundgang. Zum Konzept gehört, dass Betroffene von Zwangsmassnahmen und Nichtbetroffene ins
Gespräch kommen und sich aktiv einbringen. «Beim Probedurchgang hat das eindrücklich funktioniert», erzählt Daniel Schläppi. «Die Teilnehmenden konnten kaum glauben, was die Betroffenen erlebt haben.»
«Genau darum geht es: Von Angesicht zu Angesicht ein Verständnis zu schaffen dafür, wie solche Schicksale entstanden sind. Das geschehene Unrecht im Umgang mit Armen muss zum
Allgemeinwissen gehören. Nur so besteht Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.»
Dieser Artikel erschien zuerst beim Berner Landboten. Historische Bilder und Bildunterschriften wurden durch die Redaktion hinzugefügt.