Tagebuch über ein ganz besonderes Festival
Ich bin zu früh, die Kasse ist noch unbesetzt. Zwei lachende Gesichter schwimmen auf mich zu, «Einfach den Balken hoch!», und ich laufe mit meinem bepackten Velo aufs Festivalgelände. «Kannst doch später zurückkommen». So einfach geht Vertrauensvorschuss und Eigenverantwortung.
Überhaupt, Eintritt zahlt hier, wer kann und will, und so wird‘s beim Kugelfest auch mit allem anderen sein. Richtpreise für Drinks und Essen erfährt man, wenn man frägt. Dann kann man drüber oder drunter bleiben oder auch nichts geben. Niemand stellt Fragen oder kontrolliert.
Zeit für Experimente
Hier und da wird noch gehämmert, Töpfe rumgeschoben, Kabel verlegt. Im Nachmittagslicht startet Rea Dubach solo und die lyrischen Vokalisierungen ihrer ausschwärmenden Stimme durchdringen sich mit einem prasselnden Remix von Echos, Feedbacks und Zwitscher-Samplings. Dazu rauscht der Wald im Hintergrund gross auf. In diesen Schallraum gehört es eigentlich hin, das Set, mit der Musikerin zwischen Baum-Silhouetten verschwindend und ganz verwebt mit ihren eigenen Klangwurzeln.
Der Ton ist jedenfalls gesetzt. Experimentelles, handgefertigt und zeitgenössisch. Wie später am Abend mit dem getriebenen, psychodelischen Punk von Ester Poly oder beim dreamy Festival-Gig von Nicola Habeggers Love Project am sonnigen Abschlussnachmittag.
Sit-In
Oder wie beim gemeinsamen Happening, der sozialen Skulptur, an der wir alle zusammen bauen während diesem Festival. Das erste Plenum zeigt, wie das geht. Hier palavert nicht eine Person, sondern alle im (Orga-)Kern-Kollektiv erklären abwechselnd das Programm und die Idee des Festivals, mit lebendigen Einwürfen und Forderungen von den Aufbau-HelferInnen und vielen BesucherInnen.
Und gleich werden auch die neuen Festival-BesucherInnen ins Boot genommen: Wer putzt die Klos, leert die Mülleimer, besetzt die Bars, hilft mit in der Küche? Listen an der Pinnwand füllen sich per Handzeichen, die ohne Zögern hochfliegen. Oft gibt es sogar zu viele.
Love-In
An diesem stillen Talende, berauscht nur vom kühlenden Bach entlang dem weitflächigen Bauernhofgelände, wird klar, wie es sein könnte, unser Zusammenleben und unsere gemeinsame Lebensfreude. Wer sich durch die kunstvolle Installation der Eingangspassage schlängelt, sieht: Wo es gemeinsamen Freiraum gibt, können wir eigene Grenzen überschreiten, aber nur, wenn wir die der Anderen mitdenken, liebevoll und wohlwollend.
Überhaupt die Liebe – die ist irgendwie allgegenwärtig an diesem Festival. Aber nicht als Klischee, sondern wenn‘s ums gemeinsame Tun, Hinhören und Dazulernen geht – eben um die Lust auf einander.
Lust
Das Lebenskollektiv RaAupe stellt uns sein revolutionäres Konzept vor, wo nicht nur alles Einkommen zusammengelegt wird, sondern auch Lohnarbeit, Carearbeit, politische Arbeit, nichtkommerzielle Eigenproduktion und politische (Weiter-)Bildung gemeinsam nach einem 3-1-1-1-1-Schnitt aufgeteilt werden. Vom Hofkollektiv Radiesli erfahren wir, wie in der Nahrungsproduktion das natürliche Risiko der Naturerhaltung durch gemeinsame Investition in konkrete Feldarbeit, persönliche Kollektivanteile und Monatsabos geteilt werden kann. Und die quirligen Frauen der Genossenschaft Andere Wohnformen im Stürlerhaus am Altenberg zeigen uns, wie sich an feinster Berner Adresse die ältere Generation selbstständig zur Lebenskommune zusammenschliesst.
Lust auf einander auch bei der gemeinsamen Abwaschschicht, wo wir über die Nachfrage meiner Mitabwäscherin auf Cultural Appropriation und Rassismus kommen und das Problem, ob wir beides in der (Kunst-)Kultur überhaupt vermeiden können – während wir schrubbend das Geschirr durch drei Wasserbottiche hieven. Selbstbeteiligung ganz freiwillig und bunt, und total ansteckend.
Mond in Rot
Schon sind zwei Tage vorbei und am steilen Hang hoch über dem Festival verteilen wir uns in plappernden Grüppchen, bis der rote Mond am Himmel steht. Darunter der schwarze Wald, Scheunen im Umriss und stampfender Reggae von Msoke von der Hauptbühne her. Bald zieht er am Himmel weiter, jetzt wieder als kalt-weisse Kugel, während die intergalaktischen Siegfried & Toys der dampfenden Tanzschar mit beflügeltem Keyboarder und einem Glitzer-Vortänzer einheizt, der New York City erblassen lässt.
Zeit, um aus den heissen Klamotten zu steigen, für ein erfrischendes Nass in der mehrstufigen Badestelle, während zwei Wasserstrahlen aufs warme Bein prasseln. Dance, Drink, Dip, Repeat. Das Muster der Nacht. Wer will, macht Kaffee an der frei zugänglichen Kochstelle, hoffnungsvoll beäugt von anderen Party-LöwInnen. Schräg gegenüber preist die Snack-Bar «Verruchtes aus dem Ofen» (kleine Pizzafladen) und «Frittierte Liebe» (süsse, knusprige Teigkugeln) an. Nicht weit entfernt die grosse Feuerstelle zum Chillen während dem DJ-Set. Wer will, kleidet sich neu ein am geteilten Kleiderständer. Wer will, geht schlafen irgendwann, hinten am Wald auf dem respektvoll ruhigen Zeltplatz.
Passt so
Viele, viele Tausende fehlen noch vom Budget heisst es am nächsten Morgen beim Plenum, «also nicht vergessen, dass unsere Freiwilligenbeiträge das Festival finanzieren». Das gilt ausnahmslos sogar für das Kern-Kollektiv und alle anderen Auf-/Abbau-HelferInnen, die keine freien Solibändelis oder Essens-/Drinkvergütungen bekommen. Wie aus der jedermensch einsehbaren Aufstellung an der Pinnwand ersichtlich, streicht man hier keine Subventionen ein. Alles fliesst aus der eigenen Arbeit und Zahlkraft.
«Ihr habt falsch zusammengezählt», ruft da einer, unter grossem Gelächter der Runde. Wieder werden Aufgaben verteilt, so fürs Awareness-Team, das darauf achtet, dass sämtliche Lebensstile respektiert werden auf dem Gelände und dass es eine permanente Anlaufstelle gibt einschliesslich Code-Wort.
Here’s looking at You, Kid
Und plötzlich entsteht eine Diskussion zu «oben ohne» wegen einem offenen Kommentar auf der Pinnwand. Wo ist das Problem und für wen? Wie fühlt sich «oben ohne» an und warum mag mensch/frau/mann es? Ein kompliziertes Thema, erst vor kurzem über-aggressiv und selbstverliebt im Bund polemisiert, mit einer kraftvollen Replik im Jounal B. Hier jedoch ist es anders. Etwas ist entstanden an diesem Fest, das vertrauendes Zuhören und sich Seinlassen ermöglicht.
Als Mann nehme ich ein Privileg wahr, wenn ich mein T-Shirt ausziehe, das Frauen aberkannt ist. Dieses Bewusstsein genügt, um aufmerksam zu handeln. Regeln braucht es eigentlich nicht. Aber Beispiele sind gut: z.B. dass bei einem Mann «oben ohne» beim Holzhacken oder Baden natürlich und komfortabel erscheint, wie eine Kollegin sagt. Oder dass der Kollege es befreiend findet, hier mal selber seinen Körper geniessen zu können ohne verklemmte Abdeckung. Grenzen überschreiten und Grenzen wahren, das geht schon im gemeinsamen Freiraum.
Magenkitzel
Bald ist es Zeit fürs Z’Mittag beim heimlichen Festival-Mittelpunkt, der offenen Küchenhütte von Hasoso, dem Koch-Kollektiv aus Basel. Leckere organische, lokale Salate, Sossen, Gemüse, Beilagen, Falafel mittags und abends, und morgens diverse Müsli-Zutaten mit Obst, Marmeladen und Pancakes, plus Kaffee und Kräuter- und Schwarztee. Nachschlag, solange es reicht.
Wenn nicht schon die Liebe zu ihrem Essen ansteckend wäre, dann eh die stets fröhliche Stimmung, die von den Zubereitungstischen herüberschwingt, oft befeuert vom eigenen Sound System. Nachts bleibt alles offen einschliesslich der Essensvorräte. Stichwort: Vertrauen generiert Vertrauen.
Dance, Baby, Dance
Und dann geht’s gut gesättigt zur Diskussion am Waldrand über die «Neuausrichtung / Organisierung der Linksradikalen in der CH». ‚Wo müssen wir heutzutage intervenieren und kann man überhaupt noch neue Wege finden?‘ fragen KollegInnen aus Basel, Zürich, Bern und Berlin. Wie wär’s mit dem Demo-Model der aktuellen deutschen Clubszene in Berlin, schlägt jemand vor, wo viele Hunderte hinter mobilen DJ-Wagen tanzend von den Clubs auf Demos mitgenommen werden. «Zu unpolitisch!», beschwert sich jemand. «Das ist Demo-Tourismus, nicht politisches Bewusstsein.»
Andere sehen eine historische Chance: Zusammen mit der Kultur ändert sich schliesslich auch das Moment des Widerstandes. «Wenn sie erst mal da sind, können wir sie doch politisch abholen», entgegnet jemand anderes. Und wie sieht’s aus mit Öffentlichkeitspräsenz – darf man kooperieren mit den Social Media-Organisationen? Man soll! Und mit geringem Fussabdruck wird gleich vernetzend zur Tat geschritten. Tanz dich frei also, mal handgefertigt, mal techno-elektro oder per Chat, und eben frisch drauf los.
Wie beim Theater An: Eig Nung, wo die zwei Autorinnen-Schauspielerinnen Julie & Nina eine gedichtete Tour de Force zum Thema ‚Was/wie/wer/wo/warum ist denn die Linke?‘ abliefern. Zwischen aktivistischen Standortbestimmungen malen sie ihre Gesichter, Arme, Hände mit Leuchtfarben an und tauchen unter und auf zwischen glitzernd gespannten Transparenzbahnen. Oder wie beim komödiantischen Buvette chez Suzette-Spektakel, wo man als vogelfreier, sans papier und link(isch)er Haufen schnell in einer tiefen Tonne landet, Rettungsseil inbegriffen.
Liebe & Schwitzen
Schliesslich wird es nochmal ganz ernst mit der Liebe im Workshop «Let’s talk about us baby and sex maybe». Warum, ach warum nur fällt es uns so schwer, über Sex zu reden in und ausserhalb von Beziehungen, casual or not? Und warum haben gerade wir Männer untereinander so viel Bammel, ehrlich zuzugeben, wie’s wirklich bei uns läuft? Es tut gut, die eigene Stimme zu finden, so wie bei diesem Fest, wo viele in der Runde sehr persönlich werden und alle froh darüber sind. Auch beim Thema Polyamorie wird Klartext geredet und bald wird offensichtlich, wie diese Form der Liebe auch eine vitale, aber schwierige Bindung gerade zwischen den Mehrfach-Geliebten selber verlangt.
Nach ein paar ablöschenden Regenschauern senkt sich die Nacht feucht übers Tal. Plötzlich das Gerücht, die Saune ist angefeuert! Im Nu liegen wir schwitzend auf den heissen Bänken in der Holzhütte, die dampfend am Waldrand steht, pumped up vom Techno-Sound der nahen Bühne und mit Blick durch die Fenster auf die dunklen Bäume. Danach fürs Abschrecken runter zum Bach nebendran und Aufwärmen am kleinen Feuer, Handtuch um die Schultern. Dance, Drink, Sweat, Dip – Repeat.
Echt jetzt
Das letzte Plenum füllt wieder das grosse Zelt. Alle sind gekommen, um Bilanz zu ziehen und in die Zukunft zu spekulieren. Die Hasoso-Küche hat einen Überschuss erhalten, was sie für neue Projekte oder solidarisch als Defizitgarantie fürs Festival nutzen möchte. Und ach ja, «war übrigens alles vegan», schmunzelt einer der Köche, ohne ideologischen Beigeschmack.
Nachdenklich Bescheidenes auch vom Kern-Kollektiv: Hat man genug Partizipation praktiziert, sich selber genug zurückgenommen, Anderen eine Chance gegeben? Sollte man das Festival mehr öffnen, wie kann man die Lokalbevölkerung mit einbeziehen? Oder darf es eine Retraite der aktivistischen Szene bleiben? In kleinen Grüppchen diskutieren wir, was wir mitnehmen vom Festival.
Ich denke an einen der Kommentare vom Liebe-Workshop, die jetzt neben der öffentlichen Pinnwand hängen: «Wie weiss man, ob man jemanden liebt und diese Person nicht «nur» sehr gern hat?». Manchmal spielt es keine Rolle, ob man es weiss. Ist es Menschenliebe, gemeinsame Lust, soziale Zärtlichkeit oder aktiv(istisch)e Zuneigung, die das Kugelfest ausmacht? Wo Liebe passiert, egal in welcher Form, wird immer eine kleine Utopie real. Vielleicht ist das alles, was zählt am Ende.
Wir springen, ihr springt
Am nächsten Morgen zurück in Bern mag ich all die Stadtgeräusche nicht mehr, die an meine Fenster trommeln, und mein Kollege sagt, jetzt wo das Kugelfest vorbei sei, sei eigentlich auch der Sommer schon fast rum, während wir zusammen die Aare anstarren.
Am Sommer möcht ich noch lange festhalten – und am Kugelfest. Deswegen muss es nächstes Jahr unbedingt ein neues geben. Ihr Gutmenschen, wo immer ihr also seid, chömmet in Scharen zu den Soliparties, spendiert, schreibt euch in die HelferInnen-Listen ein, baut mit auf und ab, denkt euch coole Installationen aus, wenn es so weit ist, wieder durchzustarten zu einem Stück gel(i)ebter Utopie.
Bis gli. Go follow the Red Moon.