Licht strömt durch die Wohnung mit den hohen Decken, auf dem Balkon blühen Geranien und auf der Wiese hinter dem Haus leuchtet die grosse Magnolie in Rosarot. «Verzeihen Sie, ich bin etwas erkältet», sagt Esther Hirschi während sie durch ihre Wohnung führt. Anzuhören ist es ihr kaum. «Hier ist mein sicherer Ort», erklärt sie und setzt sich an den Tisch im Wohnzimmer, «da ich nicht weggehen kann, ist es mir wichtig, mich wenigstens hier wohl zu fühlen.» Seit fast vierzig Jahren wohnt sie im Breitsch, mittlerweile alleine. Sie sei froh, hier leben zu dürfen, der Mietzins sei immer noch ziemlich tief, etwas Neues würde sie zu diesem Preis nicht finden. Sie deutet die Strasse entlang und sagt: «Der Block dort wird komplett renoviert, dadurch werden die Mieten teurer. Ich kann nur hoffen, dass das hier nicht auch droht.»
Der Lohn reicht nicht
Esther Hirschi bezieht Geld vom Sozialdienst der Stadt Bern und ist gerne bereit, ihre Geschichte zu erzählen. In der Hand hält sie ein Blatt mit bunter Schrift. Es ist ihr Lebenslauf, der unterste Eintrag bezieht sich auf die Zeit von 1997 bis 2013. In diesen Jahren arbeitete die gelernte Schriftsetzerin als Typografin für die Heusser AG in Gümligen. Nach deren Konkurs im Jahr 2013 fand sich Esther Hirschi plötzlich als Arbeitslose wieder. Sie besuchte ein Arbeitslosenprogramm des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks und meldete sich später bei der IV an. «Die IV hat mich zu einer Druckerei in Wabern geschickt», erzählt Esther Hirschi, «dort arbeitete ich ein halbes Jahr in der Produktion.»
Sie, die auf Anweisung des Arztes eigentlich ein ruhiges Büro gebraucht hätte, erhält nach dieser Zeit keinen Arbeitsvertrag von der Druckerei und wird anschliessend von der IV abgelehnt, mit der Begründung, sie könne ja arbeiten. «Nach zahlreichen Bewerbungen fand ich danach einen Job als Pflegehelferin bei einer privaten Spitex», sagt Esther Hirschi. Die Arbeit war stressig, anforderungsreich und trotzdem reichte der Lohn nicht zum Leben. Nebenbei arbeitet Esther Hirschi daher als Hauswartin. So ging das zwei Jahre lang, dann folgte der Zusammenbruch. «Ich konnte nicht mehr», erklärt sie, «die psychische Belastung wurde zu gross für mich.»
Viel Zeit und wenig Geld
Es folgt die Anmeldung beim Sozialdienst der Stadt Bern. Seither erhält Esther Hirschi von der Arbeitslosenkasse monatlich etwa 1580 Franken ausbezahlt, dazu kommen die 690 Franken von ihrer Arbeit als Hauswärtin. Von diesem Geld bezahlt sie grundsätzlich alle Lebenshaltungskosten ausser die Krankenkassengebühren. Viel bleibt da nicht übrig, meint sie und zieht ein Blatt aus ihrer Mappe. Darauf sind die monatlichen Einnahmen und Ausgaben aufgeführt.
Nach Abzug aller Fixkosten bleiben 550 Franken, das sind 18 Franken pro Tag, die nebst allem anderem fürs Essen reichen müssen. «Viel Zeit aber wenig Geld zu haben, ist eine schwierige Situation», sagt Esther Hirschi mit einem kaum hörbaren Seufzen. «Das schlechte Gewissen begleitet mich sehr oft, wenn ich Geld ausgebe.» Was sie sich heute leistet, wird morgen in der Tasche fehlen. «Dabei wäre ich in einem Alter, in dem ich noch genug fit bin, um etwas zu erleben», sagt die 61jährige, «ich hätte Lust, Dinge zu unternehmen, aber kein Geld dafür.»
«Ich will arbeiten und bewerbe mich, aber Chancen habe ich kaum.»
Verständnis für ihre Lage erlebe sie nicht oft, meint Esther Hirschi und beginnt die Kommentare aufzuzählen, mit denen sie oft konfrontiert wird: «Du hast ja ein schönes Leben, wir alle müssen arbeiten», oder «Wenn du dich genügend bemühtest, würdest du schon eine Stelle finden.» Die Realität sieht aber anders aus: «Ich will arbeiten und bewerbe mich nach wie vor auf viele Stellen, aber Chancen habe ich kaum», resümiert Hirschi. Für eine Frau in ihrem Alter, die bereits einige Jahre arbeitslos war, stünden die Chancen schlecht. «In Temporärbüros wurde ich fast ausgelacht, als ich mich vorgestellt habe», erzählt sie. Im Alltag, etwa beim Einkaufen, entsteht in ihr der Eindruck, dass alle eine Arbeitsstelle haben, nur sie nicht.
«Mittlerweile habe ich resigniert, aber mir geht es besser.»
Dass das aufs Selbstwertgefühl schlägt, glaubt man sofort, wenn Esther Hirschi davon erzählt. Noch stehen regelmässige Besuche beim RAV auf dem Programm. Dort sei man aber realistisch und habe eingesehen, dass eine Neuanstellung zu finden in dieser Situation kaum noch möglich ist. Das berufliche Abstellgleis ist zur akzeptierten Realität geworden. Sie wirkt gefasst, während sie über die letzten Jahre spricht und sagt: «Am Anfang war diese Situation sehr belastend für mich. Plötzlich ist man gezwungen, eine Lage anzunehmen, die man nicht ändern kann. Mittlerweile habe ich resigniert, aber mir geht es besser.» An diesem sonnigen Nachmittag kurz vor Ostern sind ihre Gedanken bei einem ganz anderen Feiertag: «Auch Weihnachten kostet», sagt Esther Hirschi und schaut aus dem Fenster, «die Familie einzuladen ist nicht möglich und viele Geschenke sind zu teuer. Das ist eine bittere Zeit im Jahr.»
Realitätsfremde Politik
Im Oktober dieses Jahres wird Esther Hirschi ausgesteuert sein und somit auch aus der Schweizer Arbeitslosenstatistik verschwinden. Als Ausgesteuerte wird sie fortan Geld nach den Ansätzen der Sozialhilfe beziehen. Angesprochen auf die drohenden Kürzungen merkt man ihr das Unverständnis an. «Ich frage mich, in welcher Welt diese Menschen leben, die solche Einsparungen fordern», verleiht sie ihrem Missmut Ausdruck, «die Politik entfernt sich immer wie mehr von den einfachen Leuten, das gibt mir schon zu denken.»
«Gespart wird immer bei denen, die sich nicht wehren können.»
Laut wird Esther Hirschi auch bei diesem Gespräch nicht, trotz der Ungerechtigkeit, die sie täglich empfindet. Dafür stellt sie die rhetorische Frage in den Raum: «Wer soll sich denn für uns engagieren? Gespart wird immer bei denen, die sich nicht wehren können und wer Sozialhilfe bezieht, hat nun mal keine starke Lobby im Rücken.» Esther Hirschi gehört zu einer Personengruppe, die je nach Ausgang der Abstimmung am 19. Mai besonders von den Änderungen betroffen sein könnte. Die Vorlage des Grossen Rates sieht eine generelle Kürzung des Grundbedarfs um 8 Prozent vor. Der Volksvorschlag, über den ebenfalls abgestimmt wird, enthält dagegen eine grundsätzliche Neuerung für Personen, die mit 55 Jahren oder älter ihre Stelle verlieren. Unter gewissen Voraussetzungen sollen sie neu Sozialhilfe nach den höheren Ansätzen der Ergänzungsleistungen erhalten.
Grosse Hoffnungen mag sich Esther Hirschi momentan nicht machen, ihr Alltag ist von anderen Dingen geprägt. Etwa von der Betreuung der 96jährigen Mutter, die krank ist. «Ich besuche und begleite sie sehr oft», sagt sie, «das ist auch eine grosse Belastung, die aber kaum honoriert wird. Weder moralisch noch finanziell.» Esther habe ja Zeit, hiesse es dann jeweils. Lieber würde sie aber arbeiten und sich gebraucht fühlen in dieser Gesellschaft, die sie als «immer egoistischer» wahrnimmt.