In der Schweiz lebten Ende 2022 rund 8,8 Millionen Menschen. Sie alle sind von den Entscheidungen der nationalen Legislative betroffen. Wenn das Parlament, wie kürzlich geschehen, das Mietrecht verschärft, betrifft das 64% aller Haushalte in der Schweiz. Wenn die Räte die explodierenden Gesundheitskosten nicht in den Griff bekommen, steigen für alle die Prämien. Es lässt sich also durchaus behaupten, dass es nicht unwesentlich ist, wer als Repräsentant*in im Bundeshaus sitzt und über die Geschicke des Landes bestimmt. Dennoch werden die 200 National- und 46 Ständerät*innen von nur rund 2.5 Millionen der 8.8 Millionen Menschen in diesem Land gewählt. Das sind gerade einmal 28% der Gesamtbevölkerung, die wählen.
Längst nicht alle dürfen
Wir aber kommt diese Zahl zustande? Einerseits werden politische Rechte in diesem Land nur bestimmten Menschen gewährt. Gemäss den einschlägigen Bestimmungen der Bundesverfassung und des Bundesgesetzes über die politischen Rechte steht das Wahlrecht in Bundessachen nur volljährigen Schweizerinnen und Schweizern zu, die nicht unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden. Damit sind namentlich insbesondere Menschen ohne Schweizerpass und Minderjährige ausgeschlossen. Sie machen mehr als einen Drittel der Gesamtbevölkerung aus und sind demnach, was die Vertretung ihrer persönlichen Interessen anbelangt, auf den Goodwill der 5.5 Millionen Erwachsenen mit rotem Pass verwiesen.
Bisher können Ausländerinnen und Ausländer nur in den Kantonen Neuenburg und Jura wählen und abstimmen und dies auch nur in kantonalen Angelegenheiten. Sie können ausserdem nicht selber gewählt werden. In einigen Gemeinden verfügen Menschen ohne Schweizer Pass über das kommunale Wahlrecht. Dass Ausländerinnen und Ausländer in naher Zukunft auch in nationalen Abstimmungen und Wahlen gehört werden, ist hingegen eher unwahrscheinlich. Im Juni 2022 lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion ab, die vorgesehen hätte, dass Ausländer*innen, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz wohnen, automatisch das Stimm- und Wahlrecht erhalten. Gegner*innen argumentierten, dass sich politisch Interessierte Ausländerinnen und Ausländer halt einbürgern lassen müssten. Dass die Einbürgerung für viele Ausländerinnen und Ausländer selbst nach langjährigem Aufenthalt immer noch eine grosse finanzielle, persönliche und rechtliche Hürde darstellt (im Kanton Bern darf z.B. in den letzten zehn Jahren keine Sozialhilfe bezogen worden sein), wurde dabei geflissentlich ausgeblendet. Bei der Einbürgerung setzt auch die Demokratieinitiative an, für die aktuell Unterschriften gesammelt werden. Sie will die Einbürgerung beschleunigen und so mehr politische Teilhabe ermöglichen. Dass das Vorhaben mehrheitsfähig ist, ist indessen zu bezweifeln.
Im Juni 2022 lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion ab, die vorgesehen hätte, dass Ausländer*innen, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz wohnen, automatisch das Stimm- und Wahlrecht erhalten.
Ein kleines Bisschen besser steht es um die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 16 Jahre. Zwar wurde eine Senkung im Kanton Bern jüngst verworfen. Aktuell ist jedoch auf nationaler Eben eine entsprechende Motion von Sibel Arslan (Grüne) hängig. Mit einer Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters um zwei Jahre wären immerhin 131’555 junge Schweizerinnen und Schweizer zusätzlich stimm- und wahlberechtigt.
Längst nicht alle wollen
Doch auch wer über das Wahlrecht verfügt, geht deshalb noch nicht automatisch zur Urne. Im Gegenteil: in der Regel partizipieren weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, wie zuletzt bei den Wahlen 2019 als 45.1 % das Wahlcouvert einwarfen.
In den Wochen vor den nationalen Wahlen am 22. Oktober berichten wir in einer Artikelserie dem Thema Repräsentation und Diversität. Wir stellen uns Fragen wie: Welche Gruppen sind im aktuellen Parlament unterrepräsentiert? Wie gelangt das Parlament zu mehr Diversität? Wer wählt überhaupt? Wie sieht es auf den Listen in Punkto Diversität aus? Und wie repräsentativ soll ein Parlament überhaupt sein?
Bisher in der Serie erschienen
Hier geht’s zum ganzen Dossier.
Doch weshalb verzichten Menschen auf politische Partizipation? Die Selects-Studie des Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS) zu den Wahlen 2019 hat die Gründe für die Wahlabstinenz erfragt. 36% der Nichtwähler*innen gaben demnach an, die Kandidat*innen zu wenig zu kennen. 26% gaben an, dass sie keine Partei überzeugt habe. Danach folgten das mangelnde Interesse für Politik (24%) und immerhin 20% die angaben, die Wahlen seien ihnen zu kompliziert. Die Erhebung der Gründe für die Wahlabstinenz allein ist indessen nur beschränkt aufschlussreich. So stellt sich etwa die Frage, weshalb 36% der Nichtwähler*innen die Kandidierenden zu wenig kennen. Finden sie keine Zeit, sich über die Politiker*innen zu informieren? Finden sie trotz Recherche keine Informationen oder sind die Informationen nicht ausführlich genug? Fehlt ihnen das Wissen, um die nötigen Informationen zu beschaffen? Oder sind sie schlicht desinteressiert?
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die Motive der Nichtwähler*innen einlässlich zu untersuchen. Was sich jedoch sagen lässt, ist, dass unter den Nichtwählerinnen und Nichtwählern gewisse gesellschaftliche Gruppe deutlich übervertreten sind, ebenso wie unter den Wählerinnen und Wählern. So wählen 65–74-Jährige etwa doppelt so oft wie 18–24-Jährige. Ähnliche Differenzen zeigen sich beim Einkommen oder bei der Ausbildung.
Längst nicht alle sollen
Das gängige Narrativ lautet, dass eine Demokratie mit einer hohen Wahlbeteiligung besser ist als eine solche, mit tiefer Beteiligung. Doch das ist nur bedingt richtig. Entscheiden sich Menschen aus freien Stücken dazu, ihr Wahlrecht – aus welchem Grund auch immer – nicht wahrzunehmen, dann muss die Gesellschaft das akzeptieren. Man könnte sogar behaupten, dass die Qualität der Entscheidungen zunimmt, wenn nur jene partizipieren, die tatsächlich an den politischen Vorgängen, über die sie entscheiden, interessiert sind und sich im Vorfeld darüber informiert haben.
Doch die willkürlichen Wahlabstinenzler*innen sind auch nicht das Problem. Es sind die unwillkürlichen. Das sind einerseits jene, die gar nicht die Erlaubnis haben, zu wählen. Menschen, die sich über Jahre hier aufhalten und (was gerade aus der bürgerlichen Optik in der Regel ein schlagendes Argument ist) Steuern zahlen. Ebenso junge Menschen, deren einziges Versäumnis darin besteht noch nicht volljährig zu sein, die aber teilweise seit Jahren politisch aktiv sind und den öffentlichen Diskurs entscheidend mitprägen.
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Andererseits müssen auch jene Menschen als unwillkürliche Abstinenzler*innen bezeichnet werden, die zwar partizipieren dürfen, die aber nicht können. Hier lohnt es sich auf die in der Selects-Studie erfragten Gründe für die Wahlabstinenz und auf die 20% der Menschen zurückzukommen, die angeben, die Wahlen seien für sie zu kompliziert. Solche Zahlen sind beunruhigend, zumal wohl von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Die demokratische Gesellschaft muss bemüht darum sein, solche Menschen abzuholen und ihnen den tatsächlichen Zugang zu ihren politischen Rechten zu verschaffen.
Das gängige Narrativ lautet, dass eine Demokratie mit einer hohen Wahlbeteiligung besser ist als eine solche, mit tiefer Beteiligung. Doch das ist nur bedingt richtig.
Eine funktionierende Demokratie zeichnet sich also nicht per se durch eine hohe Wahlbeteiligung aus. Eine hohe Wahlbeteiligung zeigt zwar, dass die Wahlberechtigten auch tatsächlich die Möglichkeit haben, zu partizipieren. Sie sagt aber nichts darüber aus, ob alle, die wollen, auch partizipieren dürfen. Umgekehrt stellt sich bei einer niedrigen Beteiligung nicht unbedingt die Legitimationsfrage, solange – wiederum – alle, die wollen, rechtlich und tatsächlich partizipieren können. Eine funktionierende Demokratie kann demnach als System verstanden werden, das in jeder Hinsicht politische Teilhabe ermöglicht.