Wenn selbst Berner*innen nicht wissen, wo du wohnst

von Janine Schneider 18. Februar 2023

Randbernerin: In ihrer ersten Kolumne erzählt unsere Autorin, weshalb ihr Bern nicht provinziell und doch ländlich ist.

Als ich für mein Studium von Aarau nach Bern zog, musste ich mir nach einer Weile eingestehen, dass ich faktisch von der Stadt aufs Land gezogen war. Damit meine ich nicht, wie es so viele andere gern herumposaunen, dass Bern provinziell und klein oder Aarau gar städtischer sei. Im Gegenteil. Als ich mit 21 Jahren hierher zog, war Bern für mich in erster Linie eine Grossstadt.

In Bern konnte ich durch die Stadt laufen, ohne unliebsamen Schulbekanntschaften oder der alten Kindergärtnerin zu begegnen. Bern war anonym. In Bern gab es alles, was ich in Aarau zeitlebens vermisst hatte: Foodwaste-Initiativen, gut sortierte Secondhandläden und ein Theaterhaus, das zumindest ansatzweise mit Basel und Zürich konkurrenzieren konnte. Ausserdem mindestens zehnmal so viele Cafés, Konzerte und potenzielle One-Night-Stands wie in Aarau – dachte ich zumindest.

Reichen-wo?, fragen mich auch Berner*innen, die in der Bundesstadt schon im Sandkasten gespielt haben.

So gesehen war es nur logisch, dass ich am liebsten mitten ins Zentrum dieser Stadt gezogen wäre. Aber wie so oft kam es anders. Ich landete im Norden Berns, in einem kleinen dorfähnlichen Quartier Zollikofens: Reichenbach. Reichen-wo?, fragen mich auch Berner*innen, die in der Bundesstadt schon im Sandkasten gespielt haben. Reichenbach, erkläre ich dann, ist eben nicht Zollikofen und nicht Bremgarten. Reichenbach ist genau dazwischen. Dort, wo die städtische Agglomeration auf das bäuerliche Land, Kuhglocken auf Hipsterräder treffen. Zwischen Blocksiedlungen aus den Sechzigern und Bauernhäusern aus dem 18. Jahrhundert liegen hier nur wenige Minuten Fussweg. Während es in Reichenbach noch Strassenlampen gibt, wird es nachts gleich dahinter stockfinster.

Nur zwanzig Minuten per Bus oder Velo vom Hauptbahnhof entfernt, fühlt man sich hier zeitweise wie in einer anderen Welt. Oder besser: wie auf der Schwelle von einer Welt in die nächste. Letztens entwischte eine Herde Schafe aus ihrem Gehege und zottelte durch unseren Garten. Auf dem nahen Bauernhof kann man Eier und Kartoffeln kaufen. Zum nächsten Coop sind es dagegen zehn Minuten mit dem Fahrrad oder 20 zu Fuss. Die Nachbarin weiss genauestens darüber Bescheid, wann du gestern nach Hause gekommen bist. Und sonntags fährt kein Bus. Dann ist hier Ruhetag.

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Ich habe mich dann trotz der anfänglichen Wehmut beim Gedanken an das verpasste Leben in der Grossstadt Bern ziemlich schnell mit den Vorzügen meines Fast-Landlebens angefreundet. Der Aareschwumm ist im Sommer nur fünf Minuten zu Fuss entfernt, im Wald kann man im Herbst Pilze sammeln gehen, im Winter lange Spaziergänge machen und im Frühling pflanzen wir unsere eigenen Tomaten im Garten an. Manchmal begegnet man auf dem Nachhauseweg einem Dachs, Fuchs oder Reh. Ohne es zu merken, war ich im Traum einer jeden Grossstadtaussteigerin gelandet. Und dabei ist Bern näher als es auf den ersten Blick scheint. Gleich hinter unserem Haus liegt nämlich ein beträchtlicher Teil des alten Berner Bahnhofs im Erdreich vergraben. Aber dazu nächstes Mal mehr.