Wenn Religion den Alltag bestimmt

von Basrie Sakiri-Murati 6. Juli 2022

Unsere Kolumnistin erlebte in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Kosovo als religiös tolerantes Land. Das sei heute anders, die Re-Islamisierung sei überall spürbar.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren war die religiöse Toleranz unter Albanern gross. Selbst sehr gläubige Menschen waren liberal. Niemand versuchte, andere zu beeinflussen. Bei mir zuhause befolgte z.B. nur die Mutter die Rituale des Islams. Sie betete und fastete während des Ramadans. Der Vater war eher konfessionslos. Wir Kinder waren frei. Bajram jedoch, das Opferfest und Ende des Ramadans, haben wir als Familienfest gefeiert. Eine Moschee gab es nur in der nahen Stadt. Mein Vater ging zweimal im Jahr mit den anderen Männern vom Dorf hin, einmal zum Opferfestgebet und einmal zum Ende des Ramadans. Ab und zu gingen auch meine Brüder mit.

Ein Beispiel albanischer religiöser Toleranz ist Skanderbeg, (albanisch Skënderbeu, Gjergj Kastrioti, 1405 – 1468). Er kämpfte 25 Jahre seines Lebens erfolgreich gegen das osmanische Reich. Er war katholisch, aber er wird bis heute von allen Albanern verehrt. Im Kosovo leben heute Christen und Muslime. Und es kommt vor, dass in einer Familie beide Religionen nebeneinander gelebt werden.

Bei Besuchen im Kosovo habe ich in den letzten Jahren oft mit (praktizierenden und nicht-praktizierenden) Gläubigen und auch mit Nicht-Religiösen gesprochen. Dabei habe ich festgestellt, dass der grösste Teil der gläubigen Muslime in der Regel intolerant ist. Sie haben Mühe zu verstehen, warum die anderen nicht wie sie glauben. Hier in der Schweiz habe ich eine andere Gesellschaft kennengelernt. Als Nicht-Christin war ich in den letzten Jahren immer mal wieder in Kirchen, ich fühlte mich dort selbstverständlich willkommen.

Fast in jedem Dorf steht heute eine Moschee. In diese Gotteshäuser wurde viel mehr investiert als in Spitäler, Schulen, Kindergärten und in den öffentlichen Verkehr.

Warum kam es im Kosovo nach dem Krieg zu einer Re-Islamisierung? Ich bin sicher, dies geschah nicht, weil die Menschen aus Überzeugung religiöser wurden. Es war und ist aber so, dass der Islam präsenter ist – und insbesondere den Arbeitslosen und Armen Versprechungen macht. Zahlreiche Wissenschaftler und Beobachter erklären diesen Wandel als Folge von grossen Investitionen aus arabischen Ländern und der Türkei. Fast in jedem Dorf steht heute eine Moschee. In diese Gotteshäuser wurde viel mehr investiert als in Spitäler, Schulen, Kindergärten und in den öffentlichen Verkehr. Die meisten Moscheen wurden in der Zeit gebaut, als der Kosovo vom Westen bzw. von der internationalen Gemeinschaft UNMIK (United Nations Mission in Kosovo) regiert wurde. Aber viele Moscheen sind heute leer, weil es gar nicht genügend praktizierende Muslime gibt.

Auch die Alltagssprache ist religiöser geworden.

Vor dem Krieg sah man im Kosovo selten bis nie eine junge Frau mit Kopftuch auf der Strasse. Kopftücher trugen früher vor allem ältere Frauen in den Dörfern. Heute trifft man oft junge, gebildete Frauen mit Kopftüchern, einige sogar mit Hijab. Ein scheinbarer Widerspruch zu den leeren Moscheen? Ich denke nicht. Ich vermute, dass viele Frauen zwar nicht religiös sind, sich aber durch die Verschleierung Anerkennung und Respekt verschaffen wollen. Für mich ein Trugschluss und ein Rückfall, jedenfalls das Gegenteil von den erkämpften Fortschritten in den Siebzigerjahren.

Auch die Alltagssprache ist religiöser geworden. Man begrüsst sich zum Beispiel neben «mirë dita» oder «Tungjatjeta» (Salü) oft mit «selam aleykum», und eine Hoffnung wird nicht mit «shpresojmë» bekräftigt, sondern oft mit «inch`Allah». Solche Begriffe werden arabisch ausgesprochen, obwohl die Leute sonst gar nicht Arabisch sprechen. Meines Erachtens haben da gewisse Politiker versagt. Sie haben es verpasst, selbstbewusst für einen Kosovo einzustehen mit einer eigenständigen Kultur und Tradition. Und für religiöse Toleranz zu kämpfen. Stattdessen kooperieren sie mit Blick auf Wählerstimmen mit islamischen Investoren und Fanatikern.