Wenn Kinder flügge werden

von Basrie Sakiri-Murati 19. November 2021

Der Auszug der Kinder ist für Eltern schwierig. Besonders für jene, die aus einer anderen Kultur kommen. Das merkt gerade unsere Kolumnistin Basrie Sakiri-Murati.

Als mir meine Tochter anfangs Jahr sagte: «Mami ich werde gegen Herbst ausziehen», fühlte ich mich überrumpelt. Natürlich, die Liebsten bekommen Flügel und fliegen davon. Und zu sehen, dass die eigenen Kinder selbständig werden, ist ja die schönste Belohnung für alle Eltern. Doch loslassen ist eine Herausforderung, besonders, wenn man – wie ich – mit anderen Traditionen aufgewachsen ist.

Ziemlich bald nach seinem Auszug sagte ich einmal meinem Sohn, dass ich ihn oft vermisse. Er reagierte gelassen: «Mami, meine Kollegen sind längst ausgezogen. Ich bin mit Vierundzwanzig eher spät daran!» Nach dieser Reaktion nahm ich mir vor, nicht mehr zu «jammern».

Trotzt der Angst, dass mich die Sehnsucht überwältigt, probierte ich nun, beim Auszug der Tochter, ein wenig an mich zu denken. Und an die Zeit, die ich nun für mich haben werde. Aber die Leere im Haus war schmerzlich. Ich vermisse die Tochter in jeder Ecke und bei jeder Mahlzeit – trotz vollem Arbeitsalltag und anderen Verpflichtungen.

Ich fing an, Sachen zu machen, die ich Jahrzehnte lang nicht gemacht hatte. Aufräumen, mich von alten Sachen trennen, Möbel umstellen. Und sogar Gedanken an einen möglichen Umzug tauchten auf. Ich hielt es fast nicht aus.

Ich bin aufgewachsen mit der Idee «meine Kinder bleiben ein Leben lang meine Kinder». Diese Einstellung habe ich von meiner Mutter übernommen. Obwohl meine Kinder heute erwachsen sind, und ich das Gefühl hatte, bestens zu verstehen, dass sie ausziehen wollten, sagte mein Herz: «Ihre Flügel sind noch nicht stark genug.» Ich konnte meine Sorgen nicht immer verstecken. Was, wenn sie es nicht schaffen? Werden sie ihren Alltag meistern? Werden Sie an alles denken? Eine Antwort blieb meistens aus, und sorgenvolle Gedanken überwältigten mich. Aber dann merkte ich, dass meine Sorgen unnötig sind. Sie gehen mit sicheren Schritten durch den Alltag und ihre Flügel sind stark. Das erleichterte mir den Abschied und macht mich heute glücklich.

Zwei Drittel meines Lebens habe ich in der Schweiz verbracht, und trotzdem: in diesem Fall spüre ich den kulturellen Konflikt zwischen der albanischen und der schweizerischen Kultur. Bei uns zogen die Töchter erst aus, wenn sie heirateten, und die Söhne, blieben zum Teil bis ins Alter von vierzig oder mehr Jahren zu Hause. Das hat auch mit Fürsorge zu tun, weil es im Kosovo keine Altersheime gibt. Die Eltern konnten das Wegziehen der Söhne nicht so gut verkraften, auch wenn diese danach in der Nähe lebten. Je länger sie zuhause blieben, desto stolzer waren die Eltern. Es war ein Zeichen, dass sie es gut miteinander hatten.

Ich bin froh, dass ich mich hier ziemlich früh angepasst habe und heute für meine erwachsenen Kinder nicht zum Hindernis werde, sondern sie auf ihrem Weg unterstütze. Das Ausziehen meiner Kinder empfinde ich nicht als Weltuntergang, sondern als Moment ihrer Selbständigkeit. Ich habe verstanden: es ist nicht Liebesentzug, sondern ein Entwicklungsprozess, eine Perspektive für eine neue, bessere Beziehung. Aber: egal, wie alt sie sind und wo sie leben, sie bleiben halt doch immer meine Kinder.