Nachdem die letzte Ausführung des Lit, die 2020 hätte stattfinden sollen, wegen Corona ins Wasser fiel, konnte es dieses Jahr erst zum zweiten Mal in analoger Form stattfinden. Gelesen haben aktuelle und ehemalige Studierende des Bieler Literaturinstituts. Gehört hat das Publikum eine literarisch inspirierende Bandbreite an Textauszügen, Lyrikschnipseln und Kürzesterzählungen, die Lust auf mehr machten.
«So muss man doch leben. Mit Vorhängen, 70% Lichtdurchlässigkeit»
Der Abend begann mit Sagal Maj Comafai, der verschiedene Textausschnitte vortrug, in denen er mit unterschiedlichen Sprachen («Ich will leben wie deine Freunde in Kopenhagen. Med en god Kaffeemasine.») und Textformen wie zum Beispiel Werbeslogans spielte («Hat Ihre Frau mit Ihrem Nachbarn geschlafen oder hat es noch vor?»).
Seine Geschichten zeigten im Alltäglichen das Fantastische wie das Komische («Breitbeinig in einem Stuhl sitzen, sich zurücklehnen. Viel mehr kann man von einem Menschen auch nicht erwarten.») und lockten den Zuhörer*innen mit Sätzen wie «Ich verwandle mich – Schritt für Schritt – in einen Komposthaufen» ein Schmunzeln auf die Lippen.
«Und dann such ich mal einen Gecko – und zack Psychiatrie»
Nach Sagal Maj Comafai las Malwina Ledniowska. Sie widmete ihre 15 Minuten dem Monolog einer Protagonistin, die sehr gerne redet und dazu nie genügend Raum erhält. Die Protagonistin, eine Frau wahrscheinlich älteren Alters, hatte sich auf die Suche nach dem Gecko ihres Nachbarn gemacht und war nach verschiedenen turbulenten Ereignissen in der Psychiatrie gelandet.
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In ihrem Monolog spricht sie mit einer der Betreuerinnen und erzählt ihr die unterschiedlichsten Anekdoten aus ihrem Leben und ihrem Wissensschatz («Haben Sie schon einmal gehört, wie ein Gecko ruft? Angry Gecko, geben Sie das mal ein»). Nach und nach erhält man ein differenziertes Bild dieser Frau. Davon, wie sie sich selbst und wie sie andere Menschen sieht. So empört sie sich zum Beispiel über den Nachbarn Hess, der die Klingelanlage nie abwische. Oder sie erzählt vom jungen Mann, der aus dem Zug Pizza bestellte, sie an der nächsten Station in den Wagen geliefert bekam und sich dann wegsetzte, als sie auch etwas davon wollte.
«Ich träume noch immer vom Land, indem wir alle derselben Sprache gehören»
«Mir fällt erst jetzt auf, dass es in all meinen heutigen Texten um Sprache geht», bemerkte Olga Lakritz mitten während ihrer Lesung. Tatsächlich drehten sich die Textauszüge, die sie las, mit Vorliebe um die Bedeutung von Sprache und Sprechen, Wörtern und Missverständnissen («Ich schreibe. Ich schreibe so, wie du spuckst, wenn dir der Geschmack der letzten Nacht noch am Gaumen klebt.»)
In einer poetischen Sprache erzählte sie von Vergangenem und Verlorenem, von Erinnerungen, die auftauchen und dann wieder verschwinden: «Neben mir im Bett liegt deine kalte Abwesenheit und dreht sich noch einmal um, um weiterzuschlafen.»
«Körper und Gewissen hatten zwei Kinder: Lust und Befriedigung»
Der Abend schloss mit lautem Gelächter. Schuld daran war der letzte Autor des Abends, Andri Bänziger, der mit seinen Kürzesttexten, den gekonnten Sprachspielen und vor allem seiner Performance den Lachmuskel kitzelte (es ist schwierig, das schriftlich wiederzugeben, aber beim Text «Tennis» klang das etwa folgendermassen: «Roger Federererererer. Rafael Nadalalalalal.») Manche seiner Texte bestanden nur aus einem Satz («Mein Handy ist nicht die Hand meiner Mutter und meine Kamera nicht ihr Auge»).
Die längste seiner Geschichten handelte von Chnüttu, der in einem Dorf lebt, in dem nur Inzest akzeptiert ist. Da er allerdings alle seine Geschwister «wüest» findet, versucht er dieses dörfliche Gesetz an einer Gemeindeversammlung zu reformieren. Die Reform scheitert – wie könnte es anders sein – an der Drohung, die Wirtschaft des Dorfes könne darunter leiden, wenn plötzlich ausserehelicher Sex erlaubt sei…
Mehr davon
Die Stunde Lesung ging schnell und kurzweilig vorbei. Das Publikum blieb noch eine Weile im Tojo, um über die Texte zu diskutieren und ein Bier zu trinken. Ein auffallend junges Publikum im Übrigen. Was auch zeigt: Wenn Junge für Literatur in die Kulturhäuser gelockt werden sollen, muss eben auch junger Literatur Platz geboten werden. Die Stadt Bern könnte sich von diesem kleinen Literaturfestival im Tojo glatt eine Scheibe abschneiden.