Wenn Frauen nicht erben

von Basrie Sakiri-Murati 13. Oktober 2022

Frauen im Kosovo gehen beim Erben meist leer aus. Obwohl gesetzlich gleichberechtigt, beugen sich Kosovarinnen einer uralten Tradition. Eine Ungerechtigkeit mit Folgen, sagt unsere Kolumnistin.

Der Kosovo möchte ein moderner Staat sein. Seit 2008 ist er unabhängig. Und doch greift der «Kanon des Lek Dugagjini», ein uraltes Gesetz, immer noch in das tägliche Leben ein. Das verhindert zum Beispiel, dass Töchter beim Erbe den Söhnen gleichgestellt sind. Und es hindert Frauen daran, ihr Recht auf Erbe und Eigentum einzufordern.

Bis in die Achtzigerjahre lebten die Familien in Kosovo meist zusammen, bis der jüngste Sohn oder Bruder heiratete. Erst danach wurde diskutiert, ob die Söhne oder Brüder selbständig werden sollten. Mehrmals erlebte ich in meinem Umfeld, wie Brüder das Eigentum des Vaters – also: Haus, Land, Vieh und Werkzeuge – unter sich aufteilten. Dies fand meist noch zu Lebzeiten des Vaters statt. Die Tradition verlangte, dass der Vater mit einem der Söhne (meist mit dem jüngsten) zusammen lebte.

Wenn es in einer Familie keine Söhne gab, dann teilten die Brüder des Vaters das Erbe unter sich auf. Töchter kamen nicht zum Zug!

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Dass das Eigentum auch an die Töchter oder die Schwestern ging, davon war nie die Rede. Niemand hat danach gefragt. Heute werden Frauen ab und zu gefragt, ob sie an der Vermögensaufteilung des Vaters interessiert sind, die ihnen ja gesetzlich zusteht. Aber ich kenne keine Frau, die das Erbe des Vaters angenommen hätte. Ich selber habe es auch nicht getan. Ich vermute, dass viele Frauen gar nicht über ihre staatlich garantierten Rechte informiert sind, weil eben noch das uralte Gesetz des Kanun, das Lekë Dukagjini, in den Köpfen ist.

Nach diesem Kanun war es selbstverständlich, dass das Eigentum nur unter den Brüdern geteilt wird. Es gilt: «Granija s‘hijn në pjesë të të damit. Grueja shqyptare farë trashigimit s’ka te prindja, as më plang, as në shpi, – kanuja e xen gruen si nji tepricë në shpi.» («Die Frauen gehören nicht dazu beim Teilen des Eigentums. Die albanische Frau hat kein Erbrecht bei ihren Eltern, weder auf die Wohnung noch auf das Haus. Für den Kanun ist die Frau im Haus wertlos»).

Laut einem offiziellen Bericht haben im Kosovo nur etwa 17 Prozent der Frauen Zugang zu Erbschaften.

Die «Lekë Dukagjini-Kanon» hat deshalb einen grossen Einfluss auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Vor allem in den Dörfern, wo Frauen und Mädchen in der Familie stärker diskriminiert sind. Laut einem offiziellen Bericht haben im Kosovo nur etwa 17 Prozent der Frauen Zugang zu Erbschaften.

In seltenen Fällen kam es immer mal wieder vor, dass die Töchter oder Schwestern nach Bezug des Erbes gefragt wurden. Sie lehnten es aber ab – einige aus Angst, von der Familie verstossen zu werden, andere weil ihnen gepredigt worden war, dass auf diesem Erbe kein Segen liege. Viele lehnen auch ab, weil sie fürchten, bei der Familie nicht mehr willkommen zu sein. Frauen sind mit ihren Kindern oft tagelang, ja wochenlang, bei ihren Eltern oder Geschwistern zu Besuch. Die Familie ist wichtig. Deshalb habe ich sogar Verständnis für Frauen, die zögern oder den Mut nicht haben, ihre Rechte einzufordern.

Aber: Ich sehe auch, wie dieses Festhalten an einem ungeschriebenen Gesetz den Fortschritt hindert.

Ein Staat ist nur wirklich gerecht, wenn Männer und Frauen die gleichen Rechte haben. Und wenn diese Rechte auch ohne Wenn und Aber eingefordert werden können. Das heisst, sie müssen von der ganzen Gesellschaft anerkannt und getragen werden.