Wenn Fensterschliessen nichts hilft

von Thomas Göttin 5. Januar 2024

Winterserie: Lärm Ebenso störend wie Lärm können Erschütterungen sein. Aber es gibt keine Grenzwerte. Denn diese würden hohe Kosten verursachen. Ein Beispiel aus dem Alltag.

Frisch in die neu gebaute Wohnung eingezogen, musste das junge Paar feststellen, dass diese immer mal wieder vibrierte: Gläser klirrten, Blumen auf dem Balkon zitterten, ein dumpfes Grollen erfüllte den Salon, das Sofa fühlte sich ungewollt an wie ein Massagesessel.

Die klirrenden Gläser und zitternden Blumen sind Auswirkungen der Erschütterungen, das dumpfe Grollen ist auf die schwingenden Wände zurückzuführen, Körperschall genannt. Nach langem Suchen fand sich die Ursache: Die Waschmaschinen im darunter liegenden Erdgeschoss lösten die Erschütterungen aus, welche noch zwei Stockwerke höher zu spüren waren. Kaum war die Ursache gefunden, begannen die Probleme.

Die Baufirma wollte die Resultate noch durch Messungen bestätigt wissen. Doch was sollte gemessen werden?

Denn zuerst passierte gar nichts. Die Baufirma hatte Wichtigeres zu tun, oder sie hielten die Rückmeldung für Einbildung oder Ausdruck von übersensiblen Mieter*innen. Ein Probesitzen bei laufender Waschmaschine nach Monaten brachte die Einsicht: Es vibriert tatsächlich.

Die ersten Ansätze zur Verbesserung brauchten wiederum Wochen und waren erfolglos. Die Sockel, welche die Schwingungen der Waschmaschinen abfedern sollten, verstärkten die Vibrationen in den oberen Stockwerken erst recht. Abklärungen, ob nicht irgendwo eine Verbindung von Boden, Wänden und Decken unabsichtlich als Verstärker wirkte, kamen zu keinen Ergebnissen. Erst die Auswechslung der Waschmaschinen auf ein Modell einer anderen Firma mit anderer Drehzahl beim Schwingvorgang brachte Besserung.

Messprobleme

Bevor die Baufirma definitiv neue Waschmaschinen anschaffte, wollte sie die Resultate noch durch Messungen bestätigt wissen. Doch was sollte gemessen werden? Erschütterungen kann man zwar messen, aber es gibt keine Grenzwerte. Somit lässt sich auch nicht sagen, ob Grenzwerte eingehalten werden oder nicht, obwohl Belastungen durch Erschütterungen ebenso grosse Auswirkungen haben können wie durch Lärm.

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Also misst man einfach den Lärmpegel. Dieser lag unter den in diesem Fall geltenden Grenzwerten. Schön. Aber das Problem war ja nicht der Lärm – es waren die Erschütterungen. Im Unterschied zum Lärm hilft es bei Erschütterungen nicht einmal, das Fenster zu schliessen oder ein besseres Schallschutzfenster einzubauen.

Ein riesiges Vollzugsproblem

Der Bund ist seit Inkrafttreten des Umweltschutzgesetztes vor 40 Jahren verpflichtet, dieses Problem zu lösen, denn in Artikel 21 des USG heisst es:

«1 Wer ein Gebäude erstellen will, das dem längeren Aufenthalt von Personen dienen soll, muss einen angemessenen baulichen Schutz gegen Aussen- und Innenlärm sowie gegen Erschütterungen vorsehen.

2 Der Bundesrat bestimmt durch Verordnung den Mindestschutz.»

Zwar besteht auf Bundesebene eine Erschütterungsverordnung von 2006 im Entwurf. Dieser Entwurf wurde aber in der Schublade versenkt, kaum war er erschienen. Denn Grenzwerte hätten potentiell grosse Auswirkungen: Bei Erschütterungen, die etwa durch Trams, Bahnen und Lastwagen – oder Waschmaschinen – verursacht werden, liesse sich damit bestimmen, ob Belastungsgrenzen überschritten werden. Und ob damit Sanierungsmassnahmen nötig würden. Doch solange keine Verordnung besteht, gibt es keine Grenzwerte und solange besteht auch kein Handlungsbedarf…

Stadt Bern als Vorreiterin

Die Stadt Bern hat das Problem erkannt und auf ihrer Website im Juni 2023 ein Merkblatt veröffentlicht. Bern ist damit eine Ausnahme und zusammen mit dem Kanton Aargau schweizweit löbliche Vorreiterin. Das Merkblatt beschränkt sich auf Erschütterungen von Wohnungen und vergleichbaren Nutzungen wie Spitäler oder Schulen im Bereich von Bahnlinien.

Damit kann die Stadt immerhin bei potentiell problematischen Gebieten, etwa beim Wifag-Areal oder beim Europaplatz, mit einem Erschütterungsgutachten prüfen, ob Grenzwerte eingehalten werden. Als Reverenz gilt die Deutsche Industrienorm DIN 4150-2 aus dem Jahr 1999, da es heute keine vergleichbaren gesamtschweizerische Grundlagen gibt.

Eine Verordnung auf Bundesebene ist auch 40 Jahre nach dem Gesetz  nicht in Sicht.

So überbrückt die Stadt behelfsmässig eine Lücke, die der Bund nicht füllt. Allerdings fehlen ohne Regelungen auf Bundesebene wichtige Grundlagen, was dazu führt, dass gerade bei Sanierungen der Vollzug schwierig ist. Da steht bei den Beurteilungsgrundlagen für Sanierungen im Merkblatt der Stadt Bern lakonisch: «Bis die künftige Verordnung über den Schutz vor Erschütterungen in Kraft tritt, werden diese Fälle durch die Gemeinde Bern nicht vollzogen.» Bernhard Totis vom Amt für Umwelt der Stadt Bern meint deshalb mit einem hörbaren Seufzer: «Eine Verordnung des Bundes würde sehr helfen».

Eine Verordnung auf Bundesebene ist aber auch 40 Jahre nach dem Gesetz und 20 Jahre nach dem ersten Entwurf weiterhin nicht in Sicht. Das BAFU teilt auf Anfrage von Journal B schriftlich mit: «Das BAFU kann keinen Zeitrahmen angeben für einen neuen Verordnungsentwurf. Die Arbeiten an der Erschütterungsverordnung wurden gestoppt aufgrund der geschätzten hohen Kosten für die Sanierung von Bahngeleisen. Die Schätzungen lagen bei 1 Milliarde Franken.»