Wenn das Januarloch bis Dezember dauert

von Basrie Sakiri-Murati 19. Februar 2024

Kolumne Das Wort «Januarloch» hat unsere Kolumnistin bei ihrer Ankunft in der Schweiz nicht gekannt. Wo sie herkam, dauerte die klamme Zeit im Portemonnaie das ganze Jahr über.

In der Schweiz, wie in vielen EU-Ländern, ist der Wohlstand hoch. Die meisten hier sind verwöhnt, verglichen mit den Bewohner*innen von fast überall sonst. Dafür wird hier auch hart gearbeitet. Deshalb erstaunt mich immer wieder, wenn Leute im Januar jeweils über Ebbe im Portemonnaie klagen. Januarloch – ein seltsames Wort, fand ich zu Beginn meiner Zeit in der Schweiz. Und finde es eigentlich immer noch. Sich einen Monat lang fragen müssen, ob man sich einen Artikel leisten kann oder nicht – ist das so schlimm?

Es ist mir klar, dass es auch in der Schweiz Armut gibt, weil – meiner Meinung nach – das Geld nicht gerecht verteilt ist. Und doch: der Mehrheit geht es nicht schlecht, die Menschen können sich das allermeiste leisten, was sie im Alltag brauchen. Aber natürlich lockt überall die Konsumwelt. Das Nötige besitzen, ist nicht genug. Diese «Logik» schwächt unser Mitgefühl, wir fragen uns zu selten, wie es den Leuten geht, die am Existenzminimum leben.

Der Mehrheit geht es nicht schlecht, die Menschen können sich das allermeiste leisten, was sie im Alltag brauchen

Kürzlich fragte mich während einer Vorlesung an der Rudolf-Steiner-Schule eine Schülerin: «Haben Sie heute genug Geld zum Leben?» Sie fragte wohl, weil ich zuvor erzählt hatte, dass ich die Seiten meines Tagebuchs immer ganz eng beschreiben musste, weil ich sparsam mit den Heften umgehen musste. Wir hatten schlicht kein Geld, neue zu kaufen.

Wir waren damals im Kosovo Selbstversorger. Mein Vater hatte wie die meisten Dorfbewohner kein regelmässiges monatliches Einkommen. Wir besassen eigene Tiere, Getreidefelder, einen Gemüsegarten und verschiedene Obstbäume. Und meine Mutter war eine sehr tüchtige Frau, sie konnte Vieles selbst machen. Natürlich halfen wir alle mit, wo wir konnten. Trotzdem mussten wir Salz, Zucker, Pfeffer, Waschmittel, Gas für die Lampen usw. in der Stadt einkaufen gehen. Mutter schrieb jeweils auf, was im Haushalt fehlte, und Vater besorgte es – meistens an einem Samstag – im Bazar in der Stadt.

Obwohl ich nun seit Jahren hier lebe und mir vieles leisten kann, wovon ich in meiner Jugend nicht zu träumen wagte, kann ich diesen Wohlstand oft nicht geniessen.

Wenn er in die Stadt ging, nahm er meistens etwas vom Hof mit. Er verkaufte diese Ware und hatte so Geld, um den Einkauf zu bezahlen. Zu dieser Zeit war es im Kosovo üblich, dass in den Dörfern die Männer den Einkauf für die Familie besorgten. Die Frauen blieben zu Hause und kümmerten sich um den Haushalt.

Wenn mein Vater aus der Stadt zurückkam, hat er oft etwas Kleines für uns Kinder dabei. Aber es kam auch vor, dass er mit leeren Händen heimkam, vielleicht nur mit einigen Salzstangen oder etwas Traubenzucker. Dann war es uns klar, dass für einen grösseren Einkauf das Geld nicht gereicht hatte. Aber niemand wagte, ihn danach zu fragen. Wir hofften einfach, dass es am nächsten Samstag besser aussehen würde.

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Meine Mutter konnte gut haushalten, sie fand immer eine Lösung, und hatte auch einen kleinen Notvorrat mit dem Notwendigsten. Wenn unerwartet Besuch kam, half man sich unter Nachbarn aus. Das war damals normal, man kam sich entgegen, wo man konnte.

Obwohl ich nun seit Jahren hier lebe und mir vieles leisten kann, wovon ich in meiner Jugend nicht zu träumen wagte, kann ich diesen Wohlstand oft nicht geniessen. Ich denke dann zurück an meine Jugend im Kosovo. Wir mussten sehr hart arbeiten und trotzdem hatten wir nur das Minimum zum Leben. Wir Kinder mussten überall mithelfen, damit das Familienleben funktionierte: auf den Feldern, im Garten, im Stall, in Vaters Autowerkstatt, in Mutters Haushalt… Das Januarloch dauerte nicht nur einen Monat lang. Es war allgegenwärtig, das ganze Jahr hindurch.