«Wenn beide Seiten unzufrieden sind, habe ich es richtig gemacht»

von Janine Schneider 12. Januar 2023

Manuel Widmers Jahr als Stadtratspräsident geht heute zu Ende. Ein Gespräch im Café des Pyrénées über die unterschätzte Arbeit des Ratssekretariats, die seit Jahren andauernde Vorstossflut und Frank Sinatra.

Sie waren jetzt ein Jahr lang Stadtratspräsident, haben währenddessen aber gleichzeitig weiter als Lehrer im Tscharnergut gearbeitet. Gibt es Parallelen zwischen der Arbeit als Lehrer und als Stadtratspräsident?

Das ist eine heikle Frage, da mir immer wieder vorgeworfen wurde, ich würde mich im Stadtrat schulmeisterlich aufführen (lacht). Es gibt natürlich sehr viele Parallelen. An beiden Orten muss man Ordnung halten und sauberes Arbeiten ermöglichen. Ich konnte vieles aus dem Lehrerdasein in die Ratssitzungen mitnehmen. Und manchmal wäre ich froh über ein wenig mehr heilpädagogische Ausbildung gewesen (lacht wieder). Umgekehrt konnte ich aber auch Inputs aus dem Stadtrat in den Unterricht mitnehmen, zum Beispiel was partizipative Momente in der Klasse betraf.

Vor dem Präsidium waren Sie zwölf Jahre lang Stadtrat für die GFL. Inwiefern war die Zeit als Präsident für Sie auch ein politischer Rollenwechsel?

Das ist wirklich ein massiver Rollenwechsel. Du wechselst von der Rolle des Gestalters und manchmal auch des Provokateurs zu einer Rolle, die versucht Ruhe, Ordnung und saubere Abläufe ins Geschehen zu bringen. Als Stadtratspräsident hast du zudem auch eine repräsentative Funktion, du repräsentierst die Stadt an verschiedenen Anlässen, am Neujahrsempfang zum Beispiel. Das ist eine ganz andere Rolle, als wenn du im Stadtrat einen Vorstoss vertrittst und dabei einem politischen Gegner noch eins auswischst.

Als Präsident muss man auch neutral sein und alle Anträge gleich behandeln…

Jein. Man muss nicht neutral sein. Nach dreizehn Jahren im Stadtrat kennen ja alle meine politische Haltung. Aber wenn die Leute im Stadtrat Grenzen überschreiten, muss ich gleichermassen einschreiten, egal ob das von links, aus der Mitte oder von rechts kommt. Und diese Grenzen verschieben sich als Präsident gezwungenermassen. Wenn die SVP wieder einmal an den Grenzen des Sagbaren mäandriert, darf ich mich als Stadtrat früher aufregen als in der Funktion des Präsidenten. Ich soll schliesslich keine Meinungen unterdrücken, sondern einschreiten, wenn Grenzen überschritten werden. Handkehrum muss ich grenzüberschreitende Entgegnungen von links tadeln, auch wenn ich sie emotional verstehe und befürworte.

War das eine Herausforderung?

Was ich in diesem Jahr gelernt habe: Du machst es immer falsch. In der zweitletzten Sitzung des Jahres wurde mir vorgeworfen, ich sei ein Diktator, weil ich ein Votum unterbrochen hatte. Wenn du etwas sagst, nehmen es die einen als viel zu früh und die anderen als viel zu spät wahr. Ich werde das Gefühl nicht ganz los: Wenn beide unzufrieden sind, habe ich es richtig gemacht.

Bei Ihrem Amtsantritt vor einem Jahr haben Sie in einem Interview mit dem «Bund» das Präsidium als «Knochenjob» bezeichnet. Wurde dieses Jahr so anstrengend, wie Sie es erwartet haben?

Es ist in vielerlei Hinsicht wirklich ein sehr anstrengender Job. Man muss wahnsinnig bei der Sache sein. Das Anstrengendste, sowohl inhaltlich wie formal ist, dass du jeder Rede von Anfang bis Schluss zuhören musst. Das macht sonst niemand. Man muss immer aufmerksam sein: Bleibt die Person bei der Sache, verhält sie sich angemessen wird die Zeit eingehalten? Ebenfalls ein «Knochenjob» ist die ganze Vorarbeit: zusammen mit dem Ratssekretariat Sitzungen vorbereiten, Traktandenlisten erstellen und Abläufe koordinieren. Wir hatten dieses Jahr so viele komplizierte Reglemente wie noch nie. Das Ratssekretariat hat Stunden daran gearbeitet, die Sitzungen möglichst gut vorzubereiten.

Als Stadtratspräsident verschieben sich die Grenzen gezwungenermassen.

Weshalb gab es in diesem Jahr derart viele komplizierte Geschäfte?

Der Stadtrat hat seit Jahren die Tendenz sehr operativ und bis ins Detail in den Gesetzgebungsprozess einzugreifen, bis hin zu den genauen Begrifflichkeiten. Man kann sich fragen, ob das in diesem Grad noch Aufgabe des Parlaments ist. Unser Parlament hat in den letzten Jahren angefangen, sich wie Parlament und Gemeinderat gleichzeitig aufzuführen.

Noch dazu leidet der Stadtrat ja schon seit Jahren unter seiner Geschäftslast. Als Sie angefangen haben, waren 470 Vorstösse hängig. Eines Ihrer Ziele war es, diese Geschäftslast zu verringern. Damit sind Sie allerdings nicht der Erste. Wie sind Sie vorgegangen?

Einerseits, indem ich die Grenzen des Ratsreglements ausgereizt habe. Ich habe angefangen, thematische Blöcke zu machen, anstatt strikt der vorgesehenen Reihenfolge von Wahlen, Sachgeschäften, dann Vorstössen und so weiter zu folgen. Das hat sehr gut funktioniert und wurde auch vom Rat gut aufgenommen, obwohl es in diesem Sinne nicht dem Ratsreglement entspricht. Aber es ergibt Sinn, so zu arbeiten. Zudem habe ich die erste Session organisiert: Der Stadtrat tagte einmalig nicht nur am Donnerstagabend, sondern auch am Freitag darauf. Das Ernüchternde war allerdings, dass wir dadurch zwar sehr viele Vorstösse abbauen konnten, aber an anderen Sitzungen gleich viele oder sogar mehr wieder eingereicht wurden.

Regierungsparteien benehmen sich teilweise wie Oppositionsparteien.

Weshalb ist es in den letzten Jahren zu einer gehäuften Einreichung von Vorstössen und Anträgen in diesem Ausmass gekommen?

Das ist einerseits Ausdruck einer Hilfslosigkeit der Opposition. Das meine ich nicht beschämend, sondern sehr ernsthaft. Wir haben in der Stadt Bern eine Opposition, die so klein ist, dass man sie fast nicht mehr hört. Und die einzige Möglichkeit, gehört zu werden, ist, möglichst viele Anträge und Vorstösse einzureichen und sich so Redezeit zu erarbeiten. Bis vor einem Jahr eine Änderung eintrat, hat die SVP jede Sitzung mit fünf, sechs kleinen Anfragen eröffnet, zu denen sie minutenlang ohne Widerspruch sprechen konnte. Es ist wirklich ein Mittel, um sich Gehör zu schaffen.

Mit dem man aber nicht gerade Sympathien für sich gewinnt.

Nein, natürlich nicht. Aber die Frage ist schon, welche Alternativen es überhaupt gäbe. Vielleicht würde eine integrativere Form des Politisierens dazu führen, dass weniger Vorstösse eingereicht würden. Integrativ könnte bedeuten, auf den Gegner zuzugehen, Kompromisse im Vorfeld zu suchen und runde Tische zu initiieren. Aber – und jetzt kommt das grosse Aber: Interessant ist, dass sehr viele Vorstösse und Anträge zu Reglementen auch von Regierungsparteien kommen. Das ist verwunderlich. Sie benehmen sich damit teilweise wie Oppositionsparteien. Zudem gibt sehr viele Vorstösse von beiden Seiten, die schlussendlich gar keinen Impact generieren, weil sie nicht in den Regelungsbereich des Stadtrats gehören. Dann werden Diskussionen geführt, die zwar unbestritten wichtige Diskussionen sind, aber am Schluss schaut nichts Zählbares dabei heraus.

(Foto: Salome Erni)

Wie könnte diesen Problemen begegnet werden?

2014 habe ich eine kleine Gruppe in der Aufsichtskommission präsidiert, die versuchte, das Ratsreglement auf mögliche Effizienzsteigerungen hin zu trimmen. Wir haben damals gemerkt, dass man mit Reglementsänderungen nur hier ein Pflaster und dort eine Schraube anbringen kann… Eigentlich müsste sich ganz grundsätzlich das Mindset des Parlaments ändern, um das Ganze verändern zu können. Weg von operativen Detaildiskussionen hin zu mehr strategischen Richtlinien und Rahmenbedingungen, die es festlegt.

Stadtratspolitik ist im Bewusstsein der Bevölkerung sehr wenig präsent. Viele Berner*innen wissen nicht, welche Debatten zurzeit geführt werden. Wie kann es der Stadtrat schaffen, stärker wahrgenommen zu werden?

Primär ist das ein medienpolitisches Phänomen. Mit der Fusion von Bund und BZ, aber auch schon vorher, hat die Berichterstattung über den Stadtrat in den grossen Medien massiv abgenommen. Das Interesse an Politik ist natürlich grundsätzlich nicht das grösste, wenn man die Stimmbeteiligung betrachtet. Und es braucht sehr viel, bis ein Telebärn mal ein Thema aufgreift. Das geht fast nur mit Maximalforderungen oder Skandalisierungen. Und sonst interessiert es einfach niemanden.

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Zum Schluss nochmals zurück zu Ihnen. Was waren für Sie die Highlights aus Ihrem Jahr als Präsident?

Zuerst einmal die Teamarbeit im Stadtratsbüro. Diese Zusammenarbeit war für mich wirklich ein Highlight. Da entstand ein neues Wir-Gefühl. Ein weiteres Highlight war für mich die Begleitung durch das Ratssekretariat. Dort haben wir unglaublich kompetente Leute, deren Arbeit viel zu wenig gewürdigt und ernstgenommen wird, auch von vielen Stadträtinnen und Stadträten selbst. Deshalb möchten wir nun diese Stellen umbenennen. Die oberste Person heisst bis anhin «Ratssekretärin» und das ist eine völlige Untertreibung. Sie ist de facto die Geschäftsführerin des Ratsbetriebs. Weiter habe ich es genossen, Themen setzen zu können. Auch wenn der Gestaltungsspielraum viel geringer ist, als man sich das vorstellt. Und dann natürlich mein Abschlussfest, das absolute Highlight. Am 8. Dezember im Gaskessel tanzten am Schluss dieses Jahres Leute aus allen Parteien und jeden Alters zusammen und genossen die Zeit.

Ich freue mich darauf, wieder vom politischen Gegner zu lernen. Denn manchmal hat nämlich auch er recht und nicht unbedingt ich.

Wie geht es jetzt für Sie politisch weiter?

Ich trete am 12. Januar ganz aus dem Stadtrat zurück. Letzten März bin ich in den Grossrat gewählt worden. Das bedeutete im vergangenen Jahr schon eine sehr grosse Doppelbelastung. Und ich war jetzt mehr als dreizehn Jahre Stadtrat. Es ist langsam gut. Jetzt sollen andere und jüngere nachkommen.

Worauf freuen Sie sich in der Arbeit als Grossrat?

Ich kann mich nun den für mich zentralen Themen widmen, über die ich als Stadtrat überhaupt nichts entscheiden konnte. Bildungspolitik zum Beispiel. Und auf das gegenseitige Interesse der Blöcke, das im Grossen Rat grösser ist, freue ich mich auch. Das hat mir im Stadtrat in den letzten Jahren gefehlt: das Interesse daran, weshalb jemand eine Meinung vertritt oder eben nicht. Ausserdem muss ich nun, da ich wieder in der politischen Minderheitenposition bin, erneut lernen, Allianzen zu schmieden. Es ist sehr spannend mit Leuten im Austausch zu sein, die nicht deine Meinung teilen und trotzdem auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Darauf freue ich mich: auf diese Weise Dinge entstehen zu lassen. Und auch wieder vom politischen Gegner zu lernen. Denn manchmal hat nämlich auch er recht und nicht unbedingt ich.

Neben Ihrer Arbeit als Lehrer und Politiker treten Sie auch weiterhin als DJ mcw auf. Welchen Song würden Sie für Ihren Abschied aus dem Stadtrat spielen?

«I did it my way» von Frank Sinatra.  Oder vielleicht, wenn es kein Song wäre, dann die letzten Worte von Michael Jackson: «This is it. This is the final curtain». Und, mit Blick auf den Grossrat, Pointed Sisters, «I’m so excited».