Ich stehe vor dem Café des Pyrénées in Bern und halte Ausschau nach einem älteren Herrn mit roter Velokappe auf dem Kopf. Die Sonne scheint, das Café ist gut besucht. Während die einen an ihren Getränken nippen, philosophieren andere über Gott und die Welt. Aus dem Augenwinkel erblicke ich einen jungen Mann, der in seine Zeitung versunken scheint. Er versucht, Haltung zu bewahren. Immer wieder schüttelt er den Kopf über die Buchstabensuppe, die ihm nicht zu bekommen scheint.
Im nächsten Moment höre ich eine leise, beruhigende Stimme, die sagt: «Grüss Gott, sind Sie der Journalist, mit dem ich gestern telefoniert habe?» Ich bejahe seine Frage und richte meinen Blick auf. Vor mir steht ein älterer Mann in rotem T-Shirt, kurzer blauer Hose und der roten Velokappe. «Freut mich, dass es geklappt hat», erwidere ich sein Lächeln und reiche dem durchtrainierten Senior mit den strammen Waden die Hand. «Lassen Sie uns hineingehen, da sind wir ungestört und können plaudern», bittet mich Dres Balmer, ihm zu folgen.
An manchen Stellen versagt seine Stimme. Man merkt, wie ihn das damals Erlebte heute noch beschäftigt.
Dres Balmer hat Jahrgang 1949. Geboren in Grindelwald, studierte der heute 74-Jährige nach seiner Matura Romanistik an den Universitäten Basel und Lausanne. Anschliessend amtete er als Lehrer. «Meine Matura erlangte ich im Jahr 1969. Zu dieser Zeit war es in der Schweiz möglich, dass Studenten Lehrkräfte, die an Wiederholungskursen des Militärs (WKs) teilnahmen, vertreten konnten. So bin ich da hineingerutscht und habe den Beruf des Lehrers ein Jahrzehnt lang ausgeübt, obwohl ich über kein Lehrerdiplom verfügte», schmunzelt der heutige Autor, Fotograf und Reisejournalist.
Persona non grata
Zwischen 1979 und 1982 war Dres Balmer als Delegierter für das Internationale Komitee des Roten Kreuz (IKRK) tätig und als solcher unter anderem in Zaire, Thailand, Kambodscha und El Salvador im Einsatz. Beim IKRK handelt es sich um eine Non-Profit-Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsopfern zu helfen. Gleichzeitig setzt sich das IKRK für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ein.
«Während meiner Einsätze in Zaire und El Salvador war es meine Aufgabe als IKRK-Delegierter, Gefängnisse mit politischen Gefangenen zu besuchen und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu überprüfen», gibt Balmer Einblick in seine damalige Tätigkeit. «In Thailand und Kambodscha habe ich mich um die Versorgung von Flüchtlingen mit Lebensmitteln gekümmert», ergänzt der 74-Jährige. Während er von den damaligen Zuständen erzählt, fuchtelt der bis dahin ruhig dasitzende Senior mit den Händen. An manchen Stellen versagt seine Stimme. Man merkt, wie ihn das damals Erlebte heute noch beschäftigt.
In seinem 1982 erschienenen Buch «Kupferstunde» schrieb Dres Balmer über seine Arbeit in El Salvador. «In ‹Kupferstunde› versuchte ich das berufliche Dilemma der Delegierten zu beschreiben, mit dem wir uns konfrontiert sahen.» Allerdings schoss sich der Schriftsteller damit selbst ins Bein. Es folgte die fristlose Kündigung. Gerichtlich erwirkte das IKRK ein Redeverbot in der Sache sowie ein Veröffentlichungsverbot des Buches. Nach Auffassung der Organisation hatte der einstige Delegierte seine Schweigepflicht missachtet und das Neutralitätsprinzip verletzt.
«Meinem Werk wurde der Stempel eines Enthüllungsbuches aufgedruckt, was es nicht ist. Also habe ich das Buch im Eigenverlag herausgegeben.» Nach langem Tauziehen in der Causa Balmer kam es 1984 zu einer Einigung zwischen dem Autor und dem IKRK. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt: «Durch diese Sache wurde ich für viele zur Persona non grata, was mir meinen weiteren beruflichen Werdegang erschwerte. Also musste ich mich neu aufstellen.»
Heute ist der Schweizer hauptsächlich als Reisejournalist und Fotograf tätig und berichtet in seinen Büchern über seine Erlebnisse auf Reisen, die er grösstenteils mit dem Velo absolviert. Eine seiner ersten Expeditionen führte Balmer in den 1990er-Jahren von Wien zur Halbinsel Peloponnes in Griechenland.
Der sportliche Aspekt ist eine willkommene Nebenerscheinung.
«Während ich meinen Drahtesel anfangs mit bis zu 80 Litern Material bepackte, komme ich heute mit knapp der Hälfte aus», erzählt der Minimalist. Nach eigenen Angaben fährt der durchtrainierte Hobbysportler auf Reisen durchschnittlich 100 Kilometer täglich. «In meinem Alter kann es vorkommen, dass es hier und dort mal zwickt. An manchen Tagen macht mir womöglich der Wettergott einen Strich durch die Reisepläne. Auf derartige Fälle bin ich vorbereitet und fahre so viel Reserve heraus, dass ich mir einen Ruhetag erlauben kann.»
Das unbeschreibliche Gefühl von Freiheit, sein eigener Herr zu sein, der Natur und Wildnis schonungslos ausgeliefert zu sein und dabei täglich neue Kontakte und Freundschaften knüpfen zu können, motiviere den Weltenbummler, die Touren in Angriff zu nehmen und sie durchzustehen. «Der sportliche Aspekt ist eine willkommene Nebenerscheinung. Viel wichtiger ist das Zusammenspiel von Körper und Geist», ergänzt der Schriftsteller. «Ich fahre mit offenem Visier durch die Welt, bin mir der Gefahren jederzeit bewusst und daher listig wie ein Fuchs. Ich sauge alles um mich herum in mich auf und bringe es am Ende des Tages zu Papier», führt der stille Beobachter aus.
Der Tod fährt mit
Auf die Frage, ob er sich trotz allem Gedanken über den Tod mache, räuspert er sich, zieht die Augenbrauen hoch, fährt sich über den kahlen Kopf und blickt sein Gegenüber mit grossen Augen an: «Glücklicherweise ist mir bisher nichts Schlimmes widerfahren.» Er klopft auf die hölzerne Tischkante vor ihm. «Aber natürlich fährt der Tod mit.» So seien Fahrten durch die USA kein Zuckerschlecken.
Der Velo-Tourist berichtet von einem Erlebnis während einer Tour über die Route 66: «Wir waren als Gruppe unterwegs. Es mögen fünf oder sechs Personen gewesen sein. Plötzlich erspähte ich aus dem Augenwinkel ein Gewehr hinter der Heckscheibe eines Pick-ups. Im nächsten Moment drosselte der Fahrer, der uns kurze Zeit vorher angepöbelt und beschimpft hatte, die Fahrgeschwindigkeit, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden. Ich wies meine Begleiter an, ruhig zu bleiben und das Schritttempo beizubehalten. Meine Hoffnung bestand darin, dass sich hinter uns ein Stau bilden und die Blechlawine zu hupen beginnen würde. Wenn dir so etwas widerfährt, rutscht dir das Herz schon mal in die Hose», berichtet der erfahrene Abenteurer und Familienvater.
«Auch Fahrten durch die Bronx oder als Sandwich zwischen einem Truck und einem SUV sorgen für ein mulmiges Gefühl. Da muss ich hellwach sein, fahre meist rechts raus auf den Schotter und ringe nach Luft.» Er beschreibt sich als nicht religiösen, aber durchaus demütigen Menschen. Er faltet die Hände zusammen, richtet den Blick nach oben und fährt mit seinen Ausführungen fort: «Jedes Jahr im November unternehmen wir eine Wallfahrt zur Madonna del Ghisallo, der Schutzpatronin der Velofahrer, um uns für unsere Unversehrtheit während des Jahres zu bedanken.» Die Wallfahrtskirche befindet sich in den italienischen Alpen. Die Zufahrt ist einer der bekanntesten Aufstiege im Strassenradsport und ist Teil der jährlichen Lombardei-Rundfahrt.
Zu Gast bei Freunden
Nachdem der Weitgereiste die USA als das gefährlichste Pflaster beschrieb, das er bisher befuhr, plaudert er weiter und kommt auf seine bisher anspruchsvollste Velotour zu sprechen: «Das war 2019. Von La Brévine im Neuenburger Jura, das auch als das schweizerische Sibirien bekannt ist, ging es über eine Gesamtstrecke von etwa 10 000 Kilometer in vier Monaten bis an den Baikalsee.» Nicht nur die grosse Distanz habe der Reisegruppe zu schaffen gemacht.
«Auch die Hauptverbindungsstrassen zwischen Europa und Asien waren eine Herausforderung. Angekommen in Sibirien ging es entlang der Steppe durch Birkenwälder und Tümpel, was sehr eintönig ist.» Jedoch habe die Art und Weise, wie die Reisenden von den Einheimischen begrüsst wurden, die zahlreichen Strapazen vergessen lassen. «Die Gastfreundschaft der Menschen ist unbeschreiblich. Wir wurden mit Geschenken überhäuft, kulinarisch verwöhnt und kamen uns vor wie Gott in Frankreich», schildert er seine Eindrücke.
Ich fahre, so lange es mir körperlich möglich ist.
Zurück in der Heimat, begibt sich der Menschenfreund bereits auf die nächste Reise: «Für mich besteht jede Expedition aus drei Etappen. Da ist zunächst die Vorbereitung auf den Trip, die Reise an sich und die Nachbereitung mithilfe meiner handschriftlichen Notizen», erklärt er. «Während des Schreibens kommen mir Dinge in den Sinn, die mir während der Tour nicht bewusst waren oder die ich anfänglich als nebensächlich abtat. Häufig sind es Kleinigkeiten, die meinen Blickwinkel auf bestimmte Dinge in ein anderes Licht rücken.»
Das Gefühl, das während des Prozesses in ihm aufsteige, beschreibt der Weltbürger Balmer als «die Trauer der Vollendung.» Was folgt, ist die gähnende Leere und das schwarze Loch, in das der wissenshungrige Weltenbummler nach einer Tour stürzt. «Auch das gehört zum grossen Ganzen», schmunzelt er.
Hallo Afrika
Dres Balmer hat bereits das nächste Projekt ins Auge gefasst: «Mit meinen Velo-Freunden will ich die Route der Grandes Alpes in Angriff nehmen.» Über 21 Pässe, durch die französischen Alpen, soll es von Genf ans Mittelmeer gehen. «Ein Klassiker, über den ich berichten will», freut er sich. «Unser Ziel ist, dass wir als Gruppe durchkommen.»
Ans Aufhören denkt der Extremsportler nicht. «Ich fahre, so lange es mir körperlich möglich ist», stellt er klar. Zwar müsse er nicht auf jeden Zug aufspringen – und trotzdem: «Der afrikanische Kontinent fehlt noch auf meiner To-doListe.»
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitung «Berner Landbote».