Welche Verantwortung tragen wir in Freundschaft und Familie?

von Noah Pilloud 21. Februar 2025

Literatur Soeben ist der neue Roman von Meral Kureyshi erschienen. In «Im Meer waren wir nie» erzählt die Berner Autorin die Geschichte einer Frau, deren Leben neuen Schwung erhält. Nur, wie bringt sie ihren Liebsten bei, dass sie dafür wegziehen muss?

Vom Grund des Schwimmbeckens aus sieht die Welt ganz anders aus. Die Sinneseindrücke sind verzerrt und gedämpft. Wohl auch deswegen hat es etwas Beruhigendes, unter Wasser zu sitzen. Jedenfalls ist es das für die Ich-Erzählerin in Meral Kureyshis neuem Roman «Im Meer waren wir nie». Es ist der einzige Ort, an dem sie nicht denkt. Deshalb setzt sie sich immer dann im Schneidersitz auf die Fliesen im Schwimmbecken, wenn ihr eigenen Gedanken sie überfordern.

Das Leben der Ich-Erzählerin scheint dahinzuplätschern. Nach ihrem Studium in den Geisteswissenschaften arbeitet sie als persönliche Assistentin für Lili, die im Altersheim wohnt. Sie hilft Lili bei den Einkäufen, öffnet die Post, begleitet sie zu Anlässen und verbringt vor allem Zeit mit ihr. Lili mag es, dass sie direkt ist und ausspricht, was sie denkt.

Eine Mischung aus zwei Kilo Bakterien und Viren, Haut und Haaren

Über der Erzählerin wohnt Sophie, ihre beste Freundin seit der Schulzeit, mit ihrem Sohn Eric. Die Erzählerin und Sophie ziehen den Jungen gemeinsam gross. Sie bringt ihn zur Schule, schaut mit ihm Filme und besucht mit ihm das Museum oder den Botanischen Garten. Zwischen den Besuchen bei Lili und der gemeinsamen Zeit mit Sophie und Eric sitzt sie im Café, wo sie früher gearbeitet hat, oder geht mit ihrer Schwester schwimmen.

Should I stay or should I go?

Auf eine Weise scheint die Erzählerin zufrieden mit diesem dahinplätschernden Leben. Zufrieden, aber nicht glücklich. So antwortet sie – laut oder in Gedanken, das ist nicht ganz klar –, auf die Frage einer Alterseheimbewohnerin, wer sie sei:

«Eine Mischung aus zwei Kilo Bakterien und Viren, Haut und Haaren. Ein paar Gedanken im Fluss und ein Herz, das ununterbrochen schlägt. Ich wurde geboren und warte seither auf das Sterben. Das ist meine Zeitreise. Dazwischen vergeht die Zeit, manchmal schnell und manchmal langsam. Ich versuche etwas auf dieser Erde zu hinterlassen, nicht in Vergessenheit zu geraten. Ich weiß nur nicht, was das sein soll. Also schreibe ich unsichtbare Filme, wie Eric sie nennt.»

Die Sprache vermittelt etwas Verschlafen-Träumerisches, das sich im Charakter der Erzählerin wiederfindet

Diese Suche nach Verwirklichung wird später im Roman nicht mehr explizit angesprochen, doch sie bildet den Hauptkonflikt der Protagonistin. Denn sie hat eine Assistenz in der Dramaturgie eines renommierten Theaters erhalten. Nur befindet sich dieses Theater in einer weit entfernten Stadt.

Erzählt hat sie das noch niemandem. Fast das gesamte Buch hindurch kämpft sie damit, ihr Umfeld von ihrem Wegzug zu informieren. Sie hat das Gefühl, sowohl Lili als auch Sophie und Eric im Stich zu lassen. Ausserdem, so entsteht beim Lesen der Eindruck, ist es ihr doch recht wohl in ihrem bisherigen Leben. Auch wird deutlich, dass sie die ganze Beziehungsarbeit ebenso erfüllt.

Eine Sprache nahe an der Figur

Den Konflikt der Protagonistin auf ein simples «Angst vor Veränderung» herunterzubrechen, wäre zu kurz gegriffen und würde dem Roman nicht gerecht. Meral Kureyshi schafft es, mit ihrer Sprache ganz nah an ihre Figur zu treten. Es ist kein innerer Monolog im eigentlichen Sinne, und doch verrät die Erzählsprache viel über das Innenleben der Protagonistin. Es ist ihr Blick, es sind ihre Gedanken und Empfindungen, die da vermittelt werden.

Und doch gibt es Leerstellen – manche davon bewusste Auslassungen der Erzählerin: Es ist, als ob die Protagonistin das Geschehen, während sie es erlebt, direkt in eine Erzählung bringt. Als würde sie sich ihre Geschichte selbst erzählen.

Meral Kureyshi gelingt es, eine mehrschichtige Protagonistin zu zeichnen, die Empathie weckt – gerade dann, wenn ihre Handlungen ihre Mitmenschen irritieren. (Foto: © Matthias Günter)

Diese sprachliche Nähe zur Protagonistin erlaubt es den Leser*innen, die Gründe dafür zu erfassen, weshalb sie so lange zögert, ihren neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Denn die Sprache vermittelt etwas Verschlafen-Träumerisches, das sich im Charakter der Erzählerin wiederfindet. Einer Person, an der das Leben immer etwas vorbeizuziehen scheint, weil die Realität mit dem träumerischen Innenleben nicht schritthalten kann.

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Neben dem schlechten Gewissen ihren Liebsten gegenüber und der Ungewissheit, die ein neues Leben in einer neuen Stadt mit sich bringt, erklärt diese verschlafen-träumerische Art, durchs Leben zu gehen, weshalb die Erzählerin so lange zögert.

Von Umbrüchen und gewählten Familien

Meral Kureyshi gelingt es, eine mehrschichtige Protagonistin zu zeichnen, die Empathie weckt – gerade dann, wenn ihre Handlungen ihre Mitmenschen irritieren. Das Einfühlungsvermögen und die Geduld, die die Autorin mit ihrer Figur hat, gehören zu den Stärken des Buches.

Je nach Verfassung und Vorlieben der Leser*innen können die träumerische Art der Ich-Erzählerin und die im gemächlichen Alltag eingebettete Handlung schon mal einlullend oder langatmig wirken. Wer sich hingegen gerne auf die sprachlichen Feinheiten der Erzählung einlässt und an der Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen interessiert ist, wird an diesem Buch Freude haben.

Ein Buch, das nicht nur von biographischen Umbrüchen erzählt und dem Loslassen, das damit einhergeht. In der Beziehung zwischen Sophie und der Erzählerin geht es immer wieder um Neid und soziale Herkunft. Im Beziehungsgeflecht der Erzählerin beleuchtet der Roman Freundschaften – sowohl jene zwischen Menschen, die sich bereits ein Leben lang kennen, als auch jene, die sich der dazwischenliegenden Generationen zum Trotz bilden. Er handelt von biologischen und gewählten Familien und der Frage, welche Verantwortung  und welche Verpflichtungen wir in all diesen Beziehungen einander gegenüber haben.

Meral Kureyshi: Im Meer waren wir nie. 213 S. Limmatverlag, 2025.