Welche Gesellschaft soll das abbilden?

von Janine Schneider 30. September 2023

Nationale Wahlen Am 22. Oktober wird der Nationalrat neu gewählt. Anlass, um sich zu fragen: Wie repräsentativ war unser Parlament die letzten vier Jahre? Und wie repräsentativ war die Berner Delegation? Eine Analyse.

Würde unsere Gesellschaft aussehen wie unser aktueller Nationalrat, dann gäbe es ein bisschen mehr Männer als Frauen, es gäbe kaum Menschen, die älter als 65 Jahre alt sind und nur etwa 3% der Menschen hätten eine jüngere Migrationsgeschichte vorzuweisen. Ausserdem würde unsere Gesellschaft aus 30% Geschäftsführer*innen und Unternehmer*innen bestehen und zu 7% aus Landwirt*innen. Handwerker*innen oder Menschen, die im Service arbeiten, gäbe es nicht. Es braucht keine statistischen Kenntnisse, um zu erkennen, dass diese «Parlamentsgesellschaft» sich erheblich von der Schweizer Bevölkerungsstruktur unterscheidet. Wie repräsentativ ist also unser Parlament?

«Das ist gar nicht so eine einfache Frage», erklärt Marc Bühlmann gleich zu Beginn. Der Politologe forscht an der Universität Bern zu Demokratietheorie und politischer Partizipation. «In der Politikwissenschaft unterscheiden wir zwischen substanzieller und deskriptiver Repräsentation.» Bei der substanziellen gehe es um die Abbildung der Wertehaltungen der Bevölkerungen im Parlament. Bei der deskriptiven dagegen geht es um äusserliche Eigenschaften wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Beeinträchtigung oder familiärer Hintergrund. In einem deskriptiv repräsentativen Nationalrat müsste also eine Schweiz im Kleinen wiederzufinden sein.

«Deskriptive Repräsentation kann aus zwei Gründen wichtig sein», so Bühlmann, wobei sich die Forschung da nicht ganz einig sei, «Erstens fühlt man sich wahrscheinlich besser politisch vertreten durch eine Person, die die eigene Lebenswelt teilt.» Denn unterschiedliche Lebenswelten bringen auch andere Themen aufs politische Tapet: Eine dreissigjährige Politikerin, die Rassismus-Erfahrungen gemacht hat, wird andere parlamentarische Diskussionen anstossen als ein siebzigjähriger Politiker, der im Jura ein Unternehmen führt.

«Zweitens ist es wichtig, weil dadurch Rollenvorbilder geschaffen werden und so auch Gruppen für Politik mobilisiert werden können, die es bisher nicht so waren», erklärt Bühlmann weiter. Der Politologe hat dazu geforscht und herausgefunden, dass in Ländern, in denen der Anteil von Frauen im Parlament höher ist, auch das politische Interesse der Frauen in der Bevölkerung grösser ist.

Zu wenig Senior*innen und zu viele Geschäftsführer*innen

Wie steht es also um die deskriptive Repräsentation unseres Parlaments und insbesondere der Berner Delegation im Nationalrat? Für manches sind Zahlen vorhanden, andere Aspekte müssen geschätzt werden. So sind Frauen im Nationalrat mit 41,5% immer noch leicht untervertreten. Auch in der Berner Delegation ist dieses Verhältnis mit 11 Frauen zu 13 Männern abgebildet.

Wenn man davon ausgeht, dass 5 bis 10% der Bevölkerung queer sind, müssten 10 bis 20 Politiker*innen im Nationalrat queer sein. Abzählen kann man sie an einer Hand. Die Berner Delegation steht da ausnahmsweise besser da: Mit Tamara Funiciello haben wir immerhin eine geoutete queere Parlamentarierin, die queere Berner*innen vertritt.

Fast die Hälfte der Berner Nationalrät*innen arbeitet in der Geschäftsführung.

Stärker ist die Unverhältnismässigkeit, wenn das Alter der Parlamentarier*innen betrachtet wird. Aus dem Kanton Bern gibt es genau je eine Person, die unter 39 und über 65 Jahre alt ist. 22 Nationalrät*innen sind zwischen 40 und 64 Jahren alt. Im Nationalrat ist diese Altersgruppe massiv übervertreten. Andere Kantone scheinen jedoch jünger zu wählen. So ist der Anteil der 20 bis 39-jährigen 22% im Vergleich zu 25% in der Bevölkerung einigermassen repräsentativ, wenn auch von diesen 22% die meisten in den Dreissigern sind. Unter 30 waren bei der letzten Wahl gerade einmal sieben Politiker*innen, wobei die meisten davon mittlerweile auch schon wieder die 30er-Marke überschritten haben.

Berufliche Statistiken sind mit etwas mehr Vorsicht zu geniessen. Augenfällig ist: Im Nationalrat sind Führungskräfte viermal stärker vertreten als in der Bevölkerung. Auch die Landwirtschaft ist mit aktuell 7,5% im Nationalrat gegenüber 2,6% dreimal so stark vertreten, wie es der Bevölkerung entsprechen würde. Was dagegen völlig fehlt, sind Menschen aus Dienstleistung, Verkauf, Handwerk oder Bau.

Dasselbe Muster sehen wir in der Berner Delegation. Fast die Hälfte der Nationalrät*innen arbeitet in der Geschäftsführung. Verkäuferinnen, Schreiner oder Kellner gibt es dagegen keine. Das wirkt sich auch auf den Einkommensdurchschnitt aus. Dazu gibt es zwar keine Zahlen, aufgrund der Berufe den Schluss zu ziehen, dass das durchschnittliche Einkommen der Berner Nationalrät*innen über dem Schweizer Durchschnitt steht, ist aber sicher nicht falsch.

Kaum Menschen mit Migrationsgeschichte

Starke Repräsentationsdefizite weist die Berner Delegation in Einklang mit dem ganzen Nationalrat auch auf, wenn es um Menschen mit Migrationsgeschichte geht. Dazu gibt es ebenfalls keine genauen Zahlungen, Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass etwa ein Drittel der eingebürgerten Schweizer Bevölkerung eine jüngere Migrationsgeschichte vorzuweisen hat. Von 200 Parlamentarier*innen müssten also fast 70 einen Migrationshintergrund haben. Abzählen kann man sie an zwei Händen.

Auch der Kanton Bern müsste etwa 8 Leute stellen. Tamara Funiciello ist wiederum die Einzige, die mit einer italienisch-schweizerischen Doppelbürgerschaft einen Migrationshintergrund hat. Auch BIPoC (darunter verstehen sich Black, Indigenous und People of Colour) sind weder in der Berner Delegation noch im Parlament vertreten. Zwar sind dort ebenso keine Zahlen vorhanden, dass «niemand» aber definitiv nicht repräsentativ ist, ist keine gewagte Aussage.

Von 200 Parlamentarier*innen müssten fast 70 einen Migrationshintergrund haben.

Zuletzt muss noch auf ein weiteres massives Repräsentationsdefizit hingewiesen werden. Die Anzahl Menschen in der Schweiz, die eine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung haben, wird auf etwa 1‘700‘000 beziffert. Das sind 22% der Bevölkerung. Wie die Behindertensession letzten März aufgezeigt hat, müssten dafür 44 Menschen im Parlament sitzen. Bisher gibt es genau einen Nationalrat mit einer körperlichen Behinderung, Christian Lohr von der Partei Die Mitte. In der Berner Delegation müssten mindestens 5 Politiker*innen mit einer Beeinträchtigung sitzen.

Eine Mehrheit überzeugen

Was die deskriptive Repräsentation anbelangt, verzeichnet die Schweiz und auch der Kanton Bern also einige grosse Defizite. Das habe mit dem politischen System der Schweiz zu tun. «Man braucht eine gewisse Stärke, um als Minderheit wahrgenommen und auch in die politischen Institutionen integriert zu werden», erklärt Bühlmann, «Minderheiten müssen sich als Gruppe glaubhaft machen. Und zwar nicht nur gegenüber dem politischen System, sondern insbesondere auch gegenüber den Wählerinnen und Wählern.»

Dieser Prozess dauert lange in der Schweiz, für viele ist das frustrierend. «Der Vorteil dieses Systems ist: Wenn eine Gruppe es geschafft hat ins politische System einzusteigen, dann werden ihre Anliegen auch als legitim empfunden und nicht gleich bei der nächsten Legislatur wieder über Bord geworfen.»

Haltung ist oft wichtiger

Neben der deskriptiven Repräsentation gibt es denn auch noch die Idee der substanziellen Repräsentation. Bei der substanziellen Repräsentation geht es nicht um die Lebenswelten der Politiker*innen, sondern um die Wertehaltungen, die hinter ihrer Politik stecken. Eine SP-Politikerin kann zum Beispiel eine queer-freundliche Politik verfolgen, auch wenn sie selbst nicht queer ist. Bühlmann erklärt es folgendermassen: «Die grundlegende Frage der substanziellen Repräsentation ist: Fühlt sich eine Frau mit linksgrünen Wertehaltungen eher von einem linksgrünen Mann oder von einer rechtsbürgerlichen Frau repräsentiert?» Die Antwort ist: Es kommt aufs Thema an. Und das ist auch das Argument der substanziellen Repräsentation: dass in manchen Fällen die ideologische Haltung wichtiger ist als die deskriptiven Eigenschaften der Politiker*innen.

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«Was die substanzielle Repräsentation anbelangt, ist unser Parlament sicher nicht schlecht unterwegs», schätzt Bühlmann die Situation ein. Der Politologe hat in einer Studie untersucht, wie das Parlament und die Bevölkerung über Vorlagen der Volksabstimmungen abgestimmt haben. Man könnte erwarten, dass das Parlament im Vergleich zur Bevölkerung immer polarisierter wurde. Aber das Gegenteil war der Fall: «Die zwei Stimmverhalten haben sich über die Jahre angenähert.» Die ideelle Haltung der Bevölkerung scheint sich also zumindest bei Urnenabstimmungen zu spiegeln.

Es braucht Menschen und Ideen

Zwei grosse Defizite bleiben aber. Zum einen kann ein Viertel der Schweizer Bevölkerung nicht abstimmen. Das heisst, ein Viertel der Bevölkerung kann seine Präferenzen gar nicht ins System einspeisen, was aber für substanzielle Repräsentation Voraussetzung ist. Zum anderen beeinflussen sich die substanzielle und die deskriptive Repräsentation gegenseitig. Parteiprogramme verändern sich mit den Menschen, die für sie im Nationalrat sitzen.

Minderheiten müssen sich als Gruppe glaubhaft machen.

Ein Beispiel ist der Fall von Christian Lohr (Die Mitte), dem ersten körperlich beeinträchtigen Nationalrat. In einer Studie der Universität Bern haben Marc Bühlmann und sein Team die Behindertenfreundlichkeit des Schweizer Parlaments untersucht. Interessant dabei: Die Partei Die Mitte (damals noch CVP) hatte sich recht stark gewandelt. Von einer Partei, die mit einer politisch eher aversen Haltung zu Behindertenthemen aufgefallen war, zu einer behindertenfreundlichen Partei.

«Wir haben das den Lohr-Effekt genannt», meint Bühlmann schmunzelnd. Die Relevanz gewisser Themen wird erst dann augenfällig, wenn man mit einer Person konfrontiert wird, die von diesen Themen betroffen ist. Und welcher Schluss kann daraus gezogen werden? Wie so oft, ist die Thematik komplex. «Letzten Endes sind beide Repräsentationsideen wichtig für eine Demokratie», so Bühlmann, «welche für die Wählenden gerade wichtiger ist, kommt aufs Thema und die individuelle Lebenswelt an.»