«Was täglich passiert, nimmt alle Worte weg»

von Janine Schneider 4. April 2025

Literatur Die ukrainische Schriftstellerin und Fotokünstlerin Yevgenia Belorusets kommt ans diesjährige Lesefest Aprillen. Ein kurzes Gespräch über fehlende Worte, Erwartungen an die osteuropäische Literatur und darüber, wie im Krieg auch die künstlerische Freiheit unter Beschuss gerät.

Journal B: Das Lesefest Aprillen legt dieses Jahr einen Schwerpunkt auf osteuropäische Literatur. Auch Sie, Yevgenia Belorusets sind in diesem Rahmen zu einer Lesung eingeladen. Gibt es so etwas wie «osteuropäische Literatur» überhaupt? 

Yevgenia Belorusets: Osteuropäische Literatur ist eine der vielen Kategorien, die einen scheinbar geografischen Charakter haben, aber viele Vorstellungen beinhalten, die offenbar verlocken, abschrecken, Fragen aufwerfen und bestimmte Erwartungen wecken. Die Stereotypen kommen von einer Idee Osteuropas als eine Art Nachwuchs Europas, eine Schülerin, die in ihren Prüfungen nie gut abschneidet. Von der osteuropäischen Literatur erwartet man, dass sie über politische Instabilitäten, Krisen, Zensur und die Abwesenheit der Freiheit erzählt. Man will sich in die Schattenseite eigener Vorstellungen über Europa begeben. So setzt man einer Stabilität eine Unruhe entgegen. So entsteht auch die Illusion, dass es einen stabilen, in seinem Wohlstand fast schon statischen Westen gibt. Die Vorstellung, die aus diesen Gegensätzen entsteht, beruhigt Menschen in unserer schrecklichen Zeit des Krieges – sowohl im Westen wie auch im Osten. Durch diese Teilung entsteht die tröstende Illusion, dass, wer im stabilen Teil lebt, das Gefährliche aus sicherer Distanz betrachten kann.

Sie leben zurzeit abwechselnd in Berlin und Kyjiw.  Wie erleben Sie die Rezeption Ihrer künstlerischen Arbeit in der Ukraine und in Deutschland?  

Ich arbeite mit unterschiedlichen Mitteln und Sprachen, aber es war mir nie wichtig, wie man mich definiert. Das schrecklichste Schicksal ist es, eine Rolle zu bedienen, als Vertreterin eines Landes aufzutreten. Eine solche Verantwortung kann ich auf mich nicht nehmen. Mein neuestes, kurzes Buch, erschien vor kurzem in der Ukraine, obwohl es grösstenteils auf Russisch geschrieben ist, und das gibt mir viel Hoffnung. Es ist die etwas vernebelte Hoffnung, dass die Feindbilder die ukrainische Gesellschaft nicht definieren werden. Sogar während dieses ungerechten und schrecklichen Krieges versuchen einige Kulturinstitutionen in der Ukraine künstlerische Freiheit zu fördern. Es ist aber fast unmöglich unter dem Raketenfeuer. Ich muss gestehen, ich suche immer noch nach einem Weg, wie ich arbeiten kann. Das, was täglich passiert, nimmt alle Worte weg, in allen Sprachen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Krieges meine Position geändert.  Meine Haltung ist selbstkritischer geworden – sowohl gegenüber mir selbst wie auch gegenüber der ukrainischen Gesellschaft. Das ist eine grosse Veränderung. Und ich weiss noch nicht, wie sie aufgenommen werden wird.

Von der osteuropäischen Literatur erwartet man, dass sie über politische Instabilitäten, Krisen, Zensur und die Abwesenheit der Freiheit erzählt.

Können Sie diese Veränderung erläutern?

Eignet man sich einen protektionistischen Charakter der Aussage an, beginnt man zu vergessen, wie komplex die Situation eigentlich ist und welche Strömungen in der eigenen Gesellschaft existieren, die in diesem binären Bild von Gut und Böse verschwinden. In meinen letzten Arbeiten habe ich versucht, genau diese Aspekte in den Blick zu nehmen. Zum Beispiel geht es in meiner neuesten künstlerischen Arbeit um die Zwangsmobilisierung in der Ukraine.

Was kann denn Kunst im Angesicht eines Krieges und was kann sie nicht?  

Ich denke, Kunst kann alles und dann doch wieder nichts. Einerseits erwartet man von der Kunst, dass sie in die grauen Zonen des Krieges geht und dort etwas schafft, was auch dem Journalismus oft nicht gelingt, dass die Kunst Feindbilder dekonstruiert und die Propaganda nicht bedient. Die Künstler arbeiten aber selbst unter Lebensgefahr, werden von der Propaganda eingenommen, oder von dem Gefühl, dass sie eine Art künstlerische Front gegen den Feind bilden sollen oder selbst kämpfen müssen. Künstlerische Freiheit, wenn sie auch kritisch agieren will, überlebt als eine öffentlich präsente Äusserung nur, wenn man für sie Bedingungen schafft.

Meine Haltung ist selbstkritischer geworden – sowohl gegenüber mir selbst wie auch gegenüber der ukrainischen Gesellschaft.

Sie sind gerade in einer Residenz im schweizerischen Zug und arbeiten für den ukrainischen Pavillon, der an der nächsten Biennale in Venedig zu sehen sein wird. Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich bin noch nicht sicher. Einerseits möchte ich gerne mit meinem bisherigen fotografischen Archiv arbeiten. Während des Krieges habe ich die künstlerischen Mittel gewechselt, weil sie plötzlich nicht mehr funktionierten. Ich hoffe, dass eine vertiefte systematische Arbeit für mich immer noch möglich ist. Das Problem ist, dass die Situation, in der wir leben, Zweifel am Laufband produziert. Das fotografische Bild entsteht aber schneller als jeder mögliche Zweifel. Deswegen ziehen alle heutigen Katastrophen magnetisch die Fotografie an.