Was die Jahrtausende überlebt

von Dorothe Freiburghaus 31. Juli 2014

Kann Flüchtiges die Zeiten überdauern? Der Besuch der Ausstellung «Pfahlbauer» im Historischen Museum hinterlässt tiefe Eindrücke und wirft grundsätzliche Fragen auf – auch zur heutigen Zeit.

Die Pfahlbauer, die mit und auf Pfählen bauten. In der Unterschule hörten wir von den Höhlenbewohnern und den Pfahlbauern, die vor langer Zeit hier in diesem Lande lebten. Vor langer Zeit, was bedeutet dieser Zeitbegriff mit acht, neun Jahren? Ich habe mein Gefühl für diese lange Zeit nie präzisiert.

Konsterniert las ich vom Vorhaben des Historischen Museums, eine grosse Ausstellung zu den Pfahlbauern einzurichten. Nachdem die Ausstellung eröffnet worden war, hat mich zunächst nichts hingezogen. Erst die 12. Bieler Plastikausstellung, die ganz auf die vierte Dimension, auf Zeit und Bewegung setzt, liess mich hellhörig werden. Ich kann hier als Zuschauer bei Tanz und Performance ein Statement aus unserer Zeit zu früheren Entscheiden, früheren Kunstwerken miterleben.

Aus der Vergangenheit wird Neues geschöpft oder eine Weiterentwicklung gezeigt. Dabei bleibt nichts von den flüchtigen Künsten übrig als die Erinnerung, und doch können sie eine Kultur, eine Gesellschaft prägen, ob in Ritualen oder individuellen Formen. Ob sie Inhalt transportieren oder dem Spektakel frönen, das heute so nah an der Kunst ist, was davon wird in 5000 Jahren gefunden und bewertet werden?

Heile-Welt-Bilder können nicht alles sein

Plötzlich ist mein Interesse an den Pfahlbauern geweckt: Aus der Vergangenheit die Gegenwart begreifen, Weiterentwicklung und Sinngehalt. Was wissen wir heute von der Lebensweise der Pfahlbauer? Kannten sie getanzte Riten? Woher kamen sie, wohin verschwanden sie? Worauf beruhten ihre Entscheidungen? Die lieblichen Heile-Welt-Bilder (1873) von Albert Anker aus einer Zeit, da man noch wenig von den Pfahlbauern wusste (erste Funde 1811), können ja nicht alles sein.

4000 Jahre und mehr vor Christus – lange vor den Hochkulturen in Mesopotamien (3000 v.Chr.), Ägypten (2800 bis 1000 v. Chr.), China (1500 v.Chr) – stellten die Pfahlbauer ihre Häuser auf.

Ein ausserordentlich schöner Pfahl – etwa zwei Meter hoch, mit einem viereckigen Loch für Querträger – begrüsst den Besucher der Ausstellung. Gespannt trete ich in den ersten Raum. Da steht, den Bogen gespannt, ein blonder Indianer. Ja, natürlich. Pfeil und Bogen, langes Haar, Lederkleider und -schuhe, so sehen sie alle aus, die Urbewohner dieser Erde. Von der Jagd haben sie gelebt, Beeren gesammelt, ihre Haut gegerbt von Wind und Wetter. In den Vitrinen der kostbare Fund, den der schmelzende Gletscher 2003 am Schnidejoch freigegeben hat: Pfeile, Bogen und Bogenfutteral (um 2800 v. Chr.), die «Pfahlbauer» in den Alpen.

Sie kannten Weizen und Gerste

Die Pfahlbauer an den Seerändern rutschten mit der fortschreitenden Forschung an die Seeufer, auf Moor- und Feuchtböden, wo der unstete Seespiegel und der dichte Urwald weniger zugreifen konnten. Langsam wurden die Jäger und Sammler sesshaft und begannen das Land zu bebauen. Sie kannten bereits Weizen und Gerste.

Die archäologischen Arbeiten förderten das Wissen um Keramik und Kupfer in der Jungsteinzeit (5500 – 2200 v. Chr.) zu Tage. Ausser dem Pferd lebten die Menschen damals bereits mit den gleichen Haustieren zusammen wie wir heute. Jüngeren Datums nehmen mich verzierte Geräte und Schmuck aus Bronze gefangen, frühe künstlerische Arbeiten. Erzählen sie von einem Kult oder einer Heilslehre? Sind die spielzeuggrossen Objekte Kinderspielzeuge oder Gaben an höhere Mächte? Gab es Rituale in Gruppen und Einzelauftritte – eine Art Performances?

Jedenfalls begegnen wir Äusserungen, die nicht nur Ausdruck eines stumpfen Überlebens sind. Noch fehlt der Archäologie die Möglichkeit, Formen von Schmuck und Verzierungen auf Bechern, Töpfen und Messern, zu deuten.

Da ein goldener Becher. Diente er bei kultischen Handlungen? Für Trankopfer vielleicht, wie bei den Griechen oder Römern? Sind auf den liegenden Mondsicheln nur Muster angebracht oder ist da Zyklisches, ein Wissen von Sonne, Mond und Sternen aufgezeichnet, der Beginn einer Schrift?

Viele ungelöste Rätsel

Bereits 3000 v. Chr. wurde in Mesopotamien und Ägypten die Schrift erfunden. Sie gilt als Merkmal der Hochkulturen. Sie fehlt bei den Pfahlbauern oder können die Zeichen und Strukturen auf Objekten nicht gelesen werden? Die Archäologie steht noch vor manchem Rätsel. Wie genau war die soziale Struktur, das Zusammenleben in den zum Teil riesigen Dorf- ja Stadtgemeinschaften? Wonach richtete sich ihr Wertesystem, wie stand es um Hierarchien, Status, und Konkurrenz? Was änderte mit der Erfindung des Karrenwagens 2700 v. Chr.? Und wie sind die zunehmend kriegerischen Objekte, die gefunden werden, zu deuten?

Was in der Ausstellung sehr schön zum Ausdruck kommt: Die Erfindungsgabe, die immer nach Neuem strebt, neue Materialien, neue Formen erfindet, wie jetzt, wo sie in der Bieler Plastikausstellung «Performances» prägend sind. Spiegelt sich auch hier ein Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft, ein Prozess, an dem wir ständig beteiligt sind? Was also wird von den Bestrebungen der 12. Bieler Plastikausstellung in fünf bis sechs Jahrtausenden bleiben?