Was alle angeht, können nur alle lösen

von Christoph Reichenau 11. April 2022

Ein Stück von Bühnen Bern stellt uns vor zentrale Fragen staatlicher Ordnung, Freiheit und Zufriedenheit. «Jugojugoslavija» ist plakativ, wirkt aber nach.

Ein einziges Bühnenbild für viele Zeitperioden (Henrike Engel und Sidonia Helfenstein). Ein einziges Kostüm für die zwei Schauspielerinnen (Isabelle Menke und Genet Zegay) und die zwei Schauspieler (Kilian Land und Stéphane Maeder) für vielen Episoden und manche Seelenzustände. Ein grosser Raum mit Wasserhahn, im Hintergrund ein Becken, in schmutzigem Rosa gefliest. Manchmal flackert an der Wand der Satz «OUR TRUE INTENT IS ALL FOR YOUR DELIGHT».

Links und rechts am Rand halbrunde Fenster ohne Sicht nach draussen. Hinten gemalt ein Berg, mythisch wie in Nordkorea der Land bestimmende Paektusan oder in Südkorea der Hallusan, zu sehen derzeit in der Ausstellung «Let’s Talk About Mountains» im Alpinen Museum Bern. Daneben ein Tor aus Beton, das Zugang zu einem Schutzraum sein kann oder einen Ausblick auf die Welt draussen ermöglicht.

Plötzlich ein Neubeginn

Auf der Bühne herrscht Gegenwart (Regie Anita Vulesica). Es ist die Gegenwart in mehreren Zeiten. Wir sind mal im Jahr 2044, mal im Jahr 2045, mal 1984. 1984 – dies bezieht sich wohl ebenso auf die Olympischen Spiele in Sarajewo wir auf George Orwells Roman, in dem nichts so sein darf, wie es ist. Die Zeiten sind nicht eindeutig. Die vier Kameradinnen und Kameraden im türkisfarbenen Trainingsanzug mit unklaren Beziehungen zueinander erinnern sich mal genau, mal unbestimmt an die zurückliegenden Jahre, unbestimmt wohl wegen des Gedächtnisses; könnte es auch an Gehirnwäsche liegen?

Mal war die Welt der schlimmstmögliche Ort im All, dann fror sie für zwanzig Jahre ein und lag unter einer Eisdecke. Dann taute sie auf; ein verheissungsvoller Neubeginn voller kollektiver Zufriedenheit in einem guten, aufrichtigen, freundlichen Land. Doch das gemeinsame Glück zerspringt bald, Risse tun sich auf, Unzufriedene bedrohen den Frieden, Menschen verschwinden in «Zentren für angenehme Umstände»; manchmal kommen sie zurück, zufriedener. Doch: «Alle hatten Probleme, alle haben es gespürt, aber niemand wollte Probleme».

Das ES

Die vier Menschen im Waschraum gedenken dem ES, dank dem ihr Land 2045 aufgetaut ist, gewachsen, die ganze Welt umfasst hat. Das ES ist alles in allen Formen mit allen Potenzen. Es sitzt irgendwann in einem selbst und besetzt jede und jeden mit der mächtigsten Fremdherrschaft: dem Glauben, man bestimme aus freiem eigenem Willen, was einem frommt.

Doch sie sind auch unsicher: Sollen sie zurückschauen, weil früher alles besser war, oder gilt: Blick vorwärts, denn das Vergangene war verschissen? Und die Gegenwart? Sie wird bestimmt durch gelegentlich eingespielte Paraden uniformierter Kinder, die marschieren und Parolen schmettern. In jeder Einspielung werden die Kinder älter, schwächer, kranker (Kinderchor Singschule Köniz, Leitung Anett Rest).

Olympia der Motivation

Eine Episode verdeutlicht die Zeit der Zufriedenheit. Da werden alte und unbegabte Menschen aufgefordert, sich an der Olympiade mit den Besttrainierten zu messen. Eine Alte im Glitzerkostüm (Shayenne Di Martino) gewinnt eine Medaille, denn es kommt nicht auf das Können an, sondern auf die Motivation. Das wandelt die Phrase ab «You can get it, if you really want» im Song von Jimmy Cliff aus den 1970er Jahren.

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Der Titel des Stücks, Jugojugoslavija (Autor Bonn Park), verweist auf die Geschichte des sozialistischen Balkan-Landes von 1945-1980 unter Titos kommunistischer Herrschaft, seinen Zerfall nach dessen Tod und die bis heute anhaltenden Auseinandersetzungen in der Folge des blutigen, rassistischen Bürgerkriegs nach 1991. Nicht zu vergessen: In den 1970er Jahren war Jugoslawien namentlich wegen der Praxis der Selbstverwaltung vielen Betriebe auch in der Schweiz in weiten Kreisen ein Vorbildland der wirtschaftlichen Mitbestimmung.

Nachhall

Der Abend in der Vidmar-Halle hallt nach. Deutliche Anklänge an die Propaganda in Putins Krieg gegen die Ukraine sind vielleicht beabsichtigt, möglicherweise bringen wir die Empfänglichkeit dafür selber mit. Die Inszenierung ist zuweilen grell und plakativ. Und doch lässt sie uns Zuschauende allein mit dem Rätsel: Wie kommt es dazu, dass wir uns manchmal gemeinsam in der Gesellschaft und im Staat zufrieden fühlen, uns aber manchmal in der Zufriedenheit belügen und betrügen und beherrschen lassen?

Oder umgekehrt: Warum und wann schlägt ein einmal vielleicht ehrlich um gute Zustände bemühtes Regime um in eine Diktatur, die sich gegen «ihre» Bürgerinnen und Bürger wendet? Oder auch: Kann ein Regime, das wir als Individuen nicht selber einzusetzen und abzusetzen vermögen, überhaupt ein gutes, menschenfreundliches sein? Und können wir Menschen uns dauerhaft für eine Gemeinschaft für alle einsetzen, ohne uns und andere gelegentlich oder systematisch zu bevorzugen?

Friedrich Dürrenmatt hat in den 21 Punkten zum Stück «Die Physiker» geschrieben: «Was alle angeht, können nur alle lösen.» Das ist der Schlüssel für die Lösung des Rätsels. Wir benötigen ihn dringend. Gerade heute.