Warum Theater?

von Stephanie Gräve 12. September 2016

Die Gesellschaft finanziert das Stadttheater. Solange sie es notwendig findet. Wie kann das Theater die Gesellschaft von seiner Unentbehrlichkeit überzeugen? Indem es zum Mitfühlen und Mitdenken verführt.

Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern sich auch in der Lust schulen, ihn zu befreien. Alle Lüste und Spässe der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier müssen von unserem Theater gelehrt werden. (Bertolt Brecht)

Die Frage nach der Subventionsverteilung in der Berner Kultur wird wieder einmal öffentlich gestellt. Ist es richtig, dass das Stadttheater einen so grossen Anteil des gesamten Subventionskuchens erhält? Dass es gegenwärtig zur Infragestellung kommt, überrascht nicht, ist aber nichtsdestotrotz traurig. Der dringende Mehrbedarf der freien Szene steht ausser Zweifel – gerade die freien Künstler, die in prekären Verhältnissen leben und arbeiten, brauchen für ihre Projekte eine grosszügige finanzielle Ausstattung. Sie brauchen ausreichend Spielräume, sich zu entwickeln. Um mit der Szene in Basel, Zürich, europaweit mithalten zu können. Das Gleiche gilt allerdings fürs Stadttheater, und man muss auch das offen aussprechen dürfen: Konzert Theater Bern ist nicht luxuriös finanziert, nicht im Vergleich zu den vorgenannten Städten.

Finanzierung, nicht Subventionierung

Natürlich muss man die Frage stellen: Was will, was soll das Stadttheater heute noch? Wo liegt seine Kraft und Relevanz, seine Verantwortung – wenn es denn mehr sein soll als die grosse Repräsentationskiste der Stadt? Wenn es nicht nur der bürgerlichen Selbstvergewisserung mit Cüpli dienen soll, die eine öffentliche Finanzierung schwerlich rechtfertigt.

Es scheint mir richtiger, von Finanzierung zu reden als von Subventionierung. Ein Stadttheater in seiner heutigen Form, Struktur und Arbeitsweise kann sich gar nicht selbst tragen, nicht einmal annähernd. Es mag wünschenswert sein, den Eigenfinanzierungsgrad zu erhöhen, von 18 auf 20, 22 Prozent. Aber das sind letztlich Peanuts im Vergleich zum Gesamtetat.

Vom Wortsinn her geht es nicht um Subventionierung, nicht um ein “zu Hilfe kommen”, es wird nicht zeitweilig unter die Arme gegriffen. Die Gesellschaft entscheidet sich, Kunst und Kultur – und eben auch ein Stadttheater – zu finanzieren. Weil sie es wichtig und notwendig findet. Oder sie entscheidet, es nicht zu tun. Diese Möglichkeit hat sie durchaus. Deshalb muss das Theater zweierlei unter Beweis stellen: Dass es unverzichtbar ist für die Gesellschaft und dass es mit den anvertrauten Ressourcen verantwortlich umgeht.

Veränderungen überall

Wie aber die Gesellschaft überzeugen? Ganz sicher nicht, indem wir es ihr nur leicht machen. Wir leben in einer Zeit rasender Umbrüche, beängstigender Entwicklungen. Wir beobachten, wie die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet, wir erleben wachsende Entsolidarisierung. Wir fühlen und betrauern den Verlust von Identität in einer globalisierten Gesellschaft, lokaler wie nationaler Identität. Unzählige alte Gewissheiten sind uns abhanden gekommen. Wir sind konfrontiert mit den Herausforderungen einer unübersichtlichen und bedrohlichen weltpolitischen Lage. Instabilität in weiten Teilen der Welt führt zu enormen Migrations- und Fluchtbewegungen.

Sehnsucht nach Gemeinsamkeit

Viel ist die Rede von der Fragmentierung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter, mindestens ebenso viel von der fortschreitenden Marginalisierung der Kultur. Und dennoch: Man spürt in einer Stadt wie Bern auch genau das Gegenteil, man spürt die Sehnsucht nach einer Identität als Stadtgesellschaft, die (auch) durch Kultur definiert ist.

Wie kann das Stadttheater Verantwortung übernehmen? Wie zur Entwicklung einer kulturell diversifizierten Gesellschaft ohne Misstrauen beitragen? Das Theater soll gesellschaftliches Zentrum der Stadt sein, ganz im Sinne seiner antiken Wurzeln. Es begann immerhin als Ort, an dem die Fragen der Polis verhandelt wurden, somit als politischer Ort.

Zuschauer gewinnen

Bern braucht ein echtes Hauptstadttheater, in dem Kunst auf hohem Niveau stattfindet. Kunst aber ist nur dann gross, wenn sie Widersprüche und Konflikte, Missstände zu thematisieren wagt. Wenn sie nicht affirmativ ist.

Und das Theater muss Zuschauer gewinnen, die nicht zur bürgerlichen Mitte zählen. Dazu bedarf es der Offenheit und Öffnung. Es braucht die Vernetzung mit Institutionen und Organisationen der Stadt, über die Menschen erreicht werden können, für die unser bürgerlicher Kunstbegriff nicht alltäglich ist. Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund. Menschen aus sogenannt bildungsfernen Schichten. Ein Stadttheater ist ein Theater für die ganze Stadt, nicht für eine Elite. Das zu erreichen, ist nicht einfach! Es braucht viel Neugier und aufeinander Zugehen, viel Vermittlung und Begegnung.

Lebensmomente exemplarisch machen

Max Frisch schreibt in einem seiner Tagebücher, wie er einmal eine Theaterprobe besuchen will. Er ist zu früh, sitzt im leeren Zuschauerraum, eine Schauspielerin überquert auf dem Weg zur Garderobe die Bühne, einen Apfel essend. Ein Techniker kommt ihr entgegen, sie begrüssen sich. Frisch bemerkt, wie die Situation der Bühne zum Rahmen wird, der einer alltäglichen Situation besondere Bedeutung verleiht.

Eine interessante Beobachtung. Sie erzählt darüber, was Theater leisten kann: Wie unter einer Lupe werden die Augenblicke des Lebens vergrössert, exemplarisch gemacht. So, dass sie etwas mitteilen können. Etwas Wesentliches. Und daraus erwächst die Verpflichtung: Dass die Theatermacher dieses Instrument, das ihnen von der Gesellschaft in die Hand gegeben ist, auch für gesellschaftlich Wesentliches verwenden.

Schule der Empathie

Was mir heute, in einer komplexen und komplizierten, uns zunehmend überfordernden Wirklichkeit eine grosse Gefährdung scheint: Dass wir die Fähigkeit zur Empathie verlieren könnten. Dass wir abstumpfen könnten angesichts des globalen Entsetzens, uns zurückziehen auf die kleinste Einheit, das ganz Private.

Das Theater als Ort des gemeinschaftlichen Erlebens stemmt sich an sich gegen die Vereinzelung. Und es hat die Chance – und somit die Verantwortung – seine besondere Kraft des lebendigen und gemeinsamen Erlebens zu nutzen. Theater kann Schule der Empathie sein, es kann das Publikum berühren und verführen. Zum Mitfühlen, zum Mitdenken. Es kann uns verführen, die eigenen Haltungen und scheinbaren Gewissheiten kritisch zu hinterfragen und womöglich zu verändern. Im besten Fall: Mit dem Triumphgefühl der Befreier die Welt aus den Angeln zu heben.