Warum nur mit Pass?

von Basrie Sakiri-Murati 19. Oktober 2023

Kolumne Wahlen sind ein Grundrecht in einer Demokratie. Unsere Kolumnistin, seit über 20 Jahren hier stimm- und wahlberechtigt, übt ihr Recht gerne aus. Aber etwas bringt sie ins Grübeln.

Ich war achtzehn, als ich meine Heimat Kosovo verlassen musste. Während ich dort lebte, kann ich mich nicht erinnern, dass je über Wahlen gesprochen wurde. Ich kannte auch nie jemanden, der daran teilnahm. Wahlen waren nicht für das normale Volk.

Mein Vater und meine älteren Brüder waren gegen das Unterdrückungsregime. Sie waren politisch interessiert und aktiv, aber über Wahlen hörte ich sie nie sprechen. Und meine Mutter und die älteren Schwestern sprachen auch nicht darüber, wie die allermeisten Frauen. Ich weiss nur, dass unser Vater sich manchmal ärgerte, wenn in den Nachrichten darüber berichtet wurde. Denn: egal wer gewählt wurde, für uns Albaner änderte sich nichts.

Wahlen waren nicht für das normale Volk

Jeder Politiker war diktatorisch und nationalistisch wie alle anderen. Unsere Rechte wurden von der kommunistischen serbischen Regierung sogar permanent gekürzt. Wir waren unterdrückt und unsere Stimme wurde von der serbischen Regierung mit Panzern und Waffen erstickt. Dies erlebte ich im März 1989 hautnah, als Serbien dem Kosovo das Autonomiestatus entzog. Diese «halbe Autonomie» hatten wir erst durch die Verfassung von 1974 erhalten.

Aber Wahlen gab es auch dann nicht. Die kommunistische Partei Serbiens machte Vorschläge, diktierte und setzte Wahlen an, wie es ihr gerade passte. Dies erreichte sie durch ihren Zweig, die Kommunistische Liga in Kosovo. So wurden überzeugte Parteigenossen gewählt, die blind gehorchten. Die Bevölkerung wurde nicht gefragt. Sie mussten sich mit den Gewählten abfinden. Weil wir diskriminiert und unterdrückt waren, blieb uns die Regierung fremd.

Zum ersten Mal fanden freie Wahlen im Kosovo nach der Befreiung, am 28. November 2000, statt. Die allgemeinen Wahlen fanden dann ein Jahr später statt. Heute wird im Kosovo gewählt, aber die Zahl der Wähler*innen ist klein, vor allem unter den jungen Menschen. Nicht einmal 40% der Bevölkerung geht wählen. Dabei sollten gerade die Jungen sich politisch engagieren. Es geht schliesslich um ihre Rechte und ihre Zukunft.

Warum ist die Staatsbürgerschaft eine notwendige Voraussetzung für das Wahlrecht?

Und dann erhielt ich also 2001 in der Schweiz erstmals in meinem Leben das Recht zu wählen. Zwölf Jahre nach meiner Ankunft hier. Meiner Meinung nach war das viel zu spät! Ich lebte damals schon über ein Jahrzehnt hier, hatte die ganze Zeit gearbeitet und meine Ausbildung abgeschlossen. Und ich hatte sogar eine Familie gegründet, mein Sohn ging in den Kindergarten. Wählen durfte ich aber erst nachdem mir der Stadtrat von Bern feierlich mitgeteilt hatte: «Frau Basrie Sakiri, wir sichern Ihnen das Bürgerrecht der Stadt Bern zu».

Ich hatte die ganze Zeit Steuern bezahlt und mich hier integriert. Warum ich den Schweizerpass brauchte, um wählen zu dürfen, verstand ich damals nicht. Und ich begreife es auch heute noch nicht. Warum ist die Staatsbürgerschaft eine notwendige Voraussetzung für das Wahlrecht? Ich finde, es wäre korrekter und demokratischer, wenn jede*r Ausländer*in mit Jahresbewilligung B und Niederlassung C das Wahlrecht hätte.