«Warum erhalten wir nicht diese Möglichkeiten?»

von Maurin Baumann & Basil Weingartner 31. März 2022

Während die Schweiz aus der Ukraine Geflüchtete willkommen heisst, stecken andere Geflüchtete im repressiven Asylregime fest. Ihre Gesuche werden derzeit nicht einmal bearbeitet.

Hasan Demir sitzt am Dienstagabend in einem Zimmer in der kantonalen Asylunterkunft im aargauischen Villmergen. Am nächsten Tag wird er zusammen mit Mitbewohner:innen und weiteren Aktivist:innen eine Kundgebung veranstalten. Gemeinsam wehren sie sich dagegen, aus Villmergen «wegtransferiert» zu werden, wie Demir es ausdrückt. Das bedeute eine neue Isolation für alle Betroffenen. «Wir leben nun einige Jahre in diesem Ort, und wissen inzwischen zumindest, was wir wo finden und wie wir überleben können». Ein kleines Stück Zuhause. Doch der Kanton hat andere Pläne.

Er will Platz schaffen: Für unbegleitete minderjährige Asylsuchende – aber zumindest temporär auch für Personen aus der Ukraine. Im «Zuge der aktuell sehr hohen Zuweisungszahlen von Personen mit Schutzstatus S aus der Ukraine» seien «Verdichtungsmassnahmen in kantonalen Unterkünften nötig», teilt das zuständige Amt auf Anfrage mit. «Dabei kann es auch zu Umplatzierungen in andere kantonale oder kommunale Unterkünfte kommen.» Man habe «Verständnis dafür, dass dies im Einzelfall für die Betroffenen unangenehm sein kann – dennoch ist es unabdingbar». Das Vorgehen des Kantons Aargau ist kein Einzelfall. Auch in Bern werden geplante Verlegungen aktuell gleich begründet – und wie in Villmergen wehren sich auch in Biel die betroffenen Personen dagegen.

Uns wurde einfach gesagt, dass wir bald verlegt werden – wir wissen aber nicht, wann und wohin.

Aktuell erreichen viele Menschen aus der Ukraine die Schweiz. Während Geflüchtete in der Schweiz sonst ein äussert rigides und repressives Asylregime erwartet, ist die Situation der ukrainischen Flüchtlinge besser. Aufgrund des neu in Kraft gesetzten Schutzstatus S müssen sie kein normales Asylverfahren durchlaufen, können sofort arbeiten, privat untergebracht werden und ihre Familie umgehend nachziehen. Hasan Demir begrüsst den Umgang mit den Menschen aus der Ukraine ausdrücklich. So spielt es für ihn, der sich im Geflüchtetenkollektiv Rota engagiert, auch keine Rolle, aus welchen Gründen er aus Villmergen weggeschickt wird.

Er stört sich aber daran, wie mit den Geflüchteten ohne Schutzstatus S umgegangen wird. «Uns wurde einfach gesagt, dass wir bald verlegt werden – wir wissen aber nicht, wann und wohin wir verlegt werden.» Und es sei ganz grundsätzlich sehr ernüchternd, zu sehen, dass das Schweizer Asylwesen eigentlich problemlos in der Lage sei, Geflüchtete besser zu behandeln.

Anhörungen ausgesetzt

Doch aktuell verschlechtert sich die Situation von vielen Geflüchteten ohne Schutzstatus S weiter. Nicht nur in Form von Verlegungen. Wie Recherchen des Onlinemagazins «Journal B» und der WOZ zeigen, hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) für Geflüchtete von ausserhalb der Ukraine aktuell praktisch alle Anhörungen ausgesetzt. Das SEM bestätigt auf Anfrage, dass die regulären Asylverfahren verzögert werden. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine seien die Gesuchszahlen in den Bundesasylzentren «massiv angestiegen». Das SEM schreibt, man sei «mit Hochdruck daran, zusätzliches Personal für das S-Status-Verfahren einzustellen, damit unsere Mitarbeitenden sich wieder auf das ordentliche Asylverfahren konzentrieren können».

«Da es sich beim Schutzstatus S um ein erstmals aktiviertes Instrument handelt, erscheint das Aussetzen der Anhörungen für andere Geflüchtete für eine kurze Zeit als verhältnismässig», sagt eine Person, die Asylsuchende rechtlich vertritt. «Aktuell ist aber nicht klar, wie lange diese Aussetzungen anhalten werden», sagt die Person, die anonym bleiben will, da sie offiziell vom SEM mandatiert arbeitet. «Die Kommunikation des SEM ist intransparent». Klar ist: Die Aussetzung dauert nun schon fast Wochen.

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Das SEM schreibt in einer Stellungnahme dazu, dass alle Personen, die ein Asylgesuch stellten und schutzbedürftig seien, Schutz erhielten. Erste Priorität habe für den Bund in der aktuellen Situation, «dass alle in der Schweiz Schutz suchenden Personen registriert werden, ein Dach über dem Kopf, ein Bett, Mahlzeiten und falls nötig medizinische Hilfe erhalten.»

Welche Folgen die aktuellen Verzögerungen bei regulären Asylverfahren haben können,  zeigt sich im Gespräch mit Michail*. Der 35-jährige Tschetschene lebt seit über einem halben Jahr in der Schweiz. Seine Frau und seine Kinder sind in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt. Während er in Bern ist und keinen festen Wohnsitz hat, ist seine Familie in einem anderen Kanton untergebracht. Damit er während seines Asylverfahrens bei seiner Familie leben dürfte, müsste das SEM eine Verfügung erlassen – dafür fehlen derzeit jedoch die Kapazitäten. «Meine Frau ist erschöpft und erneut schwanger», sagt Michail – sichtlich verzweifelt.

 «Rassistische Kriterien»

Er ist kein Einzelfall. Marek Wieruszewski, juristischer Mitarbeiter vom Solidaritätsnetz Bern verweist auf «unzählige solche Beispiele». Natürlich seien die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine für alle Länder überfordernd. Die Behandlung der Menschen aus der Ukraine sei als Zeichen der Solidarität zu sehen. «Doch egal ob Krieg in der Ukraine herrscht oder nicht: Wir finden, dass alle Menschen schutzberechtigt sind», sagt Wieruszewski.

Marek (links) und Navin vom Solidaritätsnetz Bern. (Foto: Maurin Baumann)

Und er wagt eine These: «Einige der ukrainischen Geflüchteten würden keinen positiven Asylstatus erhalten, wenn sie das reguläre Asylverfahren durchlaufen müssten». Das habe damit zu tun, dass Geflüchtete jeweils beweisen müssen, «aus bestimmten Gründen persönlich und aktiv» verfolgt zu sein oder dass eine Rückkehr unzumutbar wäre. Und dazu sind im normalen, rigiden Asylregime der Schweiz selbst Personen nicht immer in der Lage, die aus einem vom Krieg betroffenen Land geflüchtet sind.

Navin Sureskumaran, ebenfalls vom Solidaritätsnetz Bern, ergänzt, es sei schwierig «Betroffenen zu erklären, weshalb ein Unterschied zwischen ihnen und ukrainischen Geflüchteten gemacht wird.» Insbesondere, wenn die Gründe rassistisch konnotiert seien, die einen als Europäer:innen gesehen werden und die anderen nicht.

Die Chance nutzen

Francesca Falk, Migrationshistorikerin an der Universität Bern, bewertet die Ungleichbehandlungen als «sehr problematisch». Jede Flucht finde unter schwierigen Bedingungen statt, sagt sie auf Anfrage. «Rassistische Kriterien sollten nicht den Ausschlag geben, wie Migrant:innen behandelt werden», so Falk. Tatsächlich haben gesellschaftliche und medial produzierte Bilder aber einen grossen Einfluss.

Asylpolitik hängt laut Falk auch von unserer Wahrnehmung der Geflüchteten ab. Diese ist jedoch, wie historische Beispiele zeigen, nicht nur produziert, sondern auch wandelbar. Für Falk sind für die Zukunft verschiedene Szenarien denkbar: Die Solidarität gegenüber aus der Ukraine Geflüchteten könnte sich abkühlen und sich schlimmstenfalls in Ressentiments verwandeln. In einem optimistischen Szenario könnten die aktuellen Entwicklungen aber auch zu einer allgemeinen Verbesserung im Umgang mit Geflüchteten führen.

In einem optimistischen Szenario könnten die aktuellen Entwicklungen zu einer allgemeinen Verbesserung im Umgang mit Geflüchteten führen.

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich fordert denn auch in einem am Donnerstag publizierten Aufruf, die Situation aller Flüchtlinge in vielen Bereichen an den Schutzstatus S anzugleichen. «Solidarität steht allen zu», hält das Bündnis fest. Und im Berner Stadtparlament wird am Donnerstag ein Vorstoss der linken Parteien eingereicht, die Massnahmen zur Besserstellung von Geflüchtete ohne Status S verlangt.

Dieses Thema treibt auch Hasan Demir in Villmergen um. «Warum erhalten wir all diese Möglichkeiten nicht, obwohl sie nun für Geflüchtete mit Status S ganz offenbar bestehen?». Denn auch sie seien vor Krieg und Verfolgung geflüchtet.

*Name geändert

Dieser Artikel entstand in einer Kooperation mit der Wochenzeitung WOZ und erscheint ebenfalls im WOZ-Blog zum Ukrainekrieg.