Wir wissen nicht mehr, welche Vorgaben die Stadt Bern als Bauherrin den drei Künstlern für die zu schaffende Kunst am Bau gemacht hatte. Fest steht aber, dass Eugen Jordi, Rudolf Mumprecht und Emil Zbinden die Werke gemeinsam in Zbindens Atelier am Münsterplatz erarbeiteten und dass sie Wert darauf legten, dass es sich um eine kollektive Arbeit der «Arbeitsgemeinschaft Jordi-Mumprecht-Zbinden» handle.
Sicher ist weiter, dass die beiden älteren, Eugen Jordi und Emil Zbinden, gemeinsam das Wandalphabet schufen, welches das Treppenhaus im westlichen Teil des Gebäudes schmückt. Rudolf Mumprecht kreierte derweil das Fresko «Zoo» auf der Aussenwand neben dem Hauseingang und das mit einer Wanduhr verbundene Tierkreis-Sgraffito auf der südwestlichen Aussenwand. Es ist aber nicht mehr festzustellen, welche der verschiedenen Buchstabentafeln von Eugen Jordi und welche von Emil Zbinden stammen. Ebenso wenig ist klar, inwieweit Mumprecht am Wandalphabet und Jordi und Zbinden an den Fresken Mumprechts mitgewirkt haben.
«Zweifelsohne macht gerade der Aspekt der kollektiven Autorschaft das Wyler Wandalphabet zu einem in dieser Form selten umgesetzten und daher wertvollen Kunst-am-Bau-Projekt», heisst es dazu in einem kunstgeschichtlichen Gutachten. Es wurde im Auftrag von Kultur Stadt Bern vom Berner Kunsthistoriker Etienne Wismer erstellt.
Koloniale Stereotype
Zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung wurde das Gemeinschaftswerk aber nicht wegen der kollektiven Autorschaft, sondern wegen kolonialer Stereotype, welche in den Bildern enthalten sind. Die Buchstaben C, I und N sind nämlich durch Begriffe illustriert, die heute als Fremdbezeichnungen für bestimmte Ethnien diskreditiert sind. Solche Zuschreibungen waren in der Entstehungszeit des Kunstwerks weit verbreitet, und sie finden sich in vielen Alphabetisierungs-Büchern der damaligen Zeit. Trotzdem erregen sie heute zu Recht Widerspruch. Diese drei Illustrationen waren denn auch Gegenstand eines als antirassistische Aktion deklarierten Vandalenaktes, bei welcher die drei genannten Bilder im Juni 2020 mit schwarzer Farbe überstrichen wurden.
Die Buchstaben C, I und N sind nämlich durch Begriffe illustriert, die heute als Fremdbezeichnungen für bestimmte Ethnien diskreditiert sind.
Dass sich solche Stereotypen und rassistische Konnotationen ausgerechnet in einem Werk finden, deren Autoren sich klar als Sozialisten positioniert hatten und die sich vor allen für die unterprivilegierte, werktätige Bevölkerung interessierten, mag erstaunen. Es illustriert aber nur die intellektuellen Verheerungen, welche der durch das Christentum über Jahrhunderte hinweg legitimierte Rassismus auch bei vielen fortschrittlich denkenden Menschen hinterlassen hat. Es ist Ausdruck des «Weissen Denkens», wie es der französische Soziologe Lilian Thuram nennt.
Ein verunglückter Wettbewerb
Im Jahre 2019 nahm sich die städtische Kommission für Kunst im öffentlichen Raum der Sache an. Sie verstand das Werk «als exemplarische Chance, den Anteil (der Stadt Bern) am Kulturerbe der Kolonialzeit im öffentlichen Raum – und besonders im Schulkontext – zu reflektieren». Sie setzte dafür eine Fachjury ein, welche den Auftrag zu einer künstlerischen Arbeit erteilen sollte, welche die transdisziplinären Beziehungen zwischen Kunst, Pädagogik und Politik berücksichtigt. Unter anderem verlangte die Ausschreibung «eine auf Dauer angelegte Arbeit vor Ort» und «einen konkreten Input für die zeitgemässe Verhandlung des Wandbilds im Schulalltag».
Dass das Wandbild Teil eines integralen Gemeinschaftswerks ist, scheint für die Jury keine Rolle gespielt zu haben.
Zur allgemeinen Verwunderung wählte die Jury aus den eingegangen Vorschlägen eine Arbeit aus, welche diesen Bedingungen in keiner Weise entsprach (Journal B berichtete darüber). Das Projekt mit dem provokativen Titel «Das Wandbild muss weg!» sieht nämlich vor, das Wandbild aus der Schule zu entfernen und in ein Museum zu überführen. Der Prozess soll durch Medienarbeit, Workshops und Podiumsdiskussionen begleitet und filmisch dokumentiert werden. Ausserdem soll ein web-basiertes «Archiv mit Materialien zur Entstehung, Entfernung und Rekontextualisierung des Wandbilds für verschiedene Altersstufen» realisiert werden.
Dass das Wandbild Teil eines integralen Gemeinschaftswerks ist, scheint für die Jury keine Rolle gespielt zu haben. Ebenso hat sie sich offenbar um die Aspekte des Denkmalschutzes und die baurechtlichen Vorschriften foutiert. Letzteres hat dazu geführt, dass sich nun ein baurechtlich versierter Berner Anwalt gegen die geplante Zerstörung des Bildes wehrt und eine baupolizeiliche Anzeige gegen die Stadt Bern erstattet hat (siehe Teil 1 dieser Serie). Aber auch aus andern Gründen erscheint die Zerstörung der Wandbilder als verfehlt und unverantwortlich.
Ein kunstgeschichtlicher Sündenfall
Als völlig verfehlt erscheint es zunächst, die drei von ihrer Entstehungsgeschichte her eng miteinander verbundenen drei Fresken auseinanderzureissen. Das Wandalphabet, das Zoo-Fresko und die Uhr mit den Tierkreiszeichen bilden ein künstlerisches Ganzes, und sie wurden von den drei Künstlern ausdrücklich als Gemeinschaftswerk deklariert. Wie bereits erwähnt, verleiht das dem Werk einen ganz besonderen Charakter und eine erhebliche kunstgeschichtliche Bedeutung.
Es kommt dazu, dass das Wandalphabet nicht von seiner jetzigen Stelle entfernt werden kann, ohne es zu zerstören. Denn es ist in seiner ganzen Konzeption bewusst auf die Gegebenheiten des dortigen Treppenhauses ausgerichtet. «Tatsächlich besteht die Besonderheit der Wandmalerei auch in der ortsspezifischen Anpassung an die Situation entlang einer von Erdgeschoss in den ersten Stock führenden Treppe», heisst es dazu in der bereits erwähnten Stellungnahme von Etienne Wismer. «Sie ist als Gegenentwurf zu unseren angestammten Lesegewohnheiten angelegt, da sie sich zwar von links nach rechts, jedoch auch von unten nach oben liest. Die asymmetrische Platzierung der Felder zu einem wandfüllenden Ensemble trägt den schwierigen Bedingungen vor Ort – etliche Betrachterperspektiven, Höhe des Raumes, direkter Lichteinfall sowie der Art seiner Rezeption im Gehen – Rechnung».
Wenn das Wandalphabet aus dem Treppenhaus, in dem es sich jetzt befindet, entfernt wird, ist es unwiederbringlich zerstört.
All dies kann in einem Museum nicht rekonstruiert und auch nicht erlebbar gemacht werden. Wenn das Wandalphabet aus dem Treppenhaus, in dem es sich jetzt befindet, entfernt wird, ist es unwiederbringlich zerstört. Das darf mit einem für die lokale Kunstgeschichte durchaus bedeutenden Werk dreier bedeutender Berner Künstler nicht geschehen.
Ein denkmalpflegerischer Sündenfall
Wie mit Kunstwerken umzugehen ist, die bei zeitgenössischer Betrachtung Anstoss erwecken oder die Ausdruck früherer Missstände sind, ist auch eine regelmässig wiederkehrende Frage im Bereich der Denkmalpflege. Die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege hat dazu im Jahre 2018 ein Grundsatzpapier veröffentlicht, in welchem unter anderem Folgendes zu lesen ist:
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«Als materielle Zeugnisse der Geschichte sind nicht nur positiv konnotierte Kunstwerke zu erhalten, sondern auch solche, die kontrovers diskutiert werden und über deren Verständnis keine Einigkeit besteht. Kunst am Baudenkmal ist in der Regel ein für einen spezifischen Ort und auf Dauer angelegtes Werk. Veränderungen am Standort, für den ein Kunstwerk geschaffen wurde, können mit der Zerstörung des Kunstwerks einhergehen oder aber die Bedeutung und Wirkung des Kunstwerks verändern und das
Urheberrecht berühren. Demnach werden auch durch eine Versetzung eines Kunstwerks Sinn und Atmosphäre des Standortes verunklärt oder beeinträchtigt.»
Genau das droht mit der Verbringung des Wandalphabets ins Historische Museum zu geschehen. Die beabsichtigte Entfernung des Kunstwerks ist daher auch aus denkmalpflegerischer Sicht verfehlt.
Fazit
Es zeigt sich, dass die Wandbilder von Jordi, Mumprecht und Zbinden im Schulhaus Wylergut verbleiben müssen. Das Projekt «Das Wandbild muss weg!» erweist sich bei genauerer Betrachtung als sowohl kunsthistorisch als auch denkmalpflegerisch verfehlt. Für den Umgang mit den kolonialen und rassistischen Stereotypen des Werks muss eine andere, bessere Regelung gefunden werden.
Journal B beleuchtet die Sache mit dem Wandbild von verschiedenen Seiten in mehreren Artikeln. Dies ist der zweite Beitrag.
Teil 1: Ein Stoppsignal gegen die Zerstörung von Kunst