Lieber Peter Studer
Liebe Familie Studer
Liebe Anwesende
Als wir in der Steinerschule in der achten Klasse Schillers «Braut von Messina» aufführten, kam auch ein Fotograf vorbei. Es war ein kurzer Probenbesuch, ein paar Aufnahmen mit der ganzen kostümierten Klasse auf der Bühne. Keine grosse Kunst, ein Erinnerungsbild fürs Familienalbum und die interessierte Verwandtschaft. Der Fotograf war Walter Studer. Er war damals ein Fotograf, wie es viele und überall gab: Ein eigenes, kleines Geschäft, 1948 eröffnet und bis 1981 geführt, Fotoladen, Labor und Atelier, an der Moserstrasse im Nordquartier, ein paar Häuser neben dem Kino, das damals noch «Viktoria» hiess. Auftragsfotografie nach allen Seiten, für Private und Vereine, für Zeitungen und Verlage, für Gewerbe, Industrie, Verbände und öffentliche Unternehmen. Aber immer auch ein Chronist, ein Berichterstatter der laufenden Ereignisse. Louis Armstrong im Casino, Grace Kelly vor dem Bundeshaus, ein Föhnsturm im Rheintal, Katastropheneinsatz in Andermatt.
Angefangen, nach der Lehre in Spiez und Wanderjahren in Mürren, Villars und Rigi Kaltbach, wo er als Sport- und Gesellschaftsfotograf arbeitete, hat Walter Studer – wiederum wie so viele seiner Generation – als Pressfotograf. In den letzten Kriegsjahren und der Zeit danach war er viel im Ausland unterwegs. Er hat die Welt gesehen, als noch nicht alle Welt reiste und die Bilder, welche die Fotografen heimbrachten, für viele Leserinnen und Leser der Zeitungen und Illustrierten, in denen sie publiziert wurden, erste Blicke waren. Das Ziehen nach Ferne wird ihm geblieben sein, er hat ihm auch weiter nachgegeben, er war im Norden, in der Tschechoslowakei, die jetzt kommunistisch war, in den USA, in Mexiko, in Chile. Später hat er mit den Reisebildern sorgfältig gestaltete Maquetten-Bände hergestellt, für wen auch immer, aber sicher auch einfach für sich selbst. Für solche Arbeiten gab es in Bern Jahrzehnte lang nur eine Adresse: die Buchbinderei Rhyn in der vorderen Länggasse. Dorthin sind wir alle gepilgert mit unseren visionären Bildbänden.
Aber es gab, in den späten Vierzigerjahren, doch auch Gründe, sesshafter zu werden: Zum einen war schon damals, in den Jahrzehnten nach dem Krieg, der Fotojournalismus ein hartes Pflaster, die Bezahlung war schlecht und ein festes Einkommen nicht garantiert. Das war keine gute Voraussetzung, wenn eine Familie ernährt sein musste. Da war man auf jeden Auftrag angewiesen, egal, ob Schultheater oder Staatsbesuch. Das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, wenn man die Bilder dieser Fotografen und Fotografinnen – ob sie nun Studer heissen oder, um in Bern zu bleiben, Kurt Blum, Albert Winkler, Margrit Baumann oder Eduard Rieben –, wenn man ihre Bilder an die Ausstellungswand hängt: Das sind Blicke auf die Dinge und die Menschen und die Welt, die fehlen würden, wenn niemand hingeschaut hätte. Aber das sind auch und waren es zu der Zeit, als die Aufnahmen entstanden sind, ganz besonders: Honorararbeit, Handwerk, Überstunden, Nachtschicht.
Fotograf war zu der Zeit zwar ein Traumberuf – wir wollten alle, als wir in die Lehre gingen, die Fotoreporter werden, die es schon nicht mehr gegeben hat. Aber Fotografen und Fotografinnen waren in der Regel Niedrigverdiener, die Konkurrenz war recht gross – jede mittelgrosse Ortschaft hatte noch ihr eigenes Fotogeschäft, in der weiteren Region Bern gab es pro Jahrgang zehn bis zwölf Lehrstellen –, und was sie betrieben, war Kleingewerbe mit einem Anflug von Kunst, was die Sache auch nicht einfacher machte. Die Fotografinnen und Fotografen der Generation von Walter Studer haben – sie konnten gar nicht anders – immer zuerst für Geld fotografiert und dann erst für den schönen Augenblick. Allein für einen schönen Augenblick gab es kein Honorar, eine Fotografie hatte zuallererst einfach nur nützlich zu sein. Sicher haben sie alle auch frei fotografiert, aber das war mit einem Aufwand und Kosten verbunden, die sie sich nicht immer oder nicht immer in dem gewünschten Mass leisten konnten.
Einer, das ist überhaupt nicht wertend gemeint, wie es manchen gab. Und jetzt künden wir ihn in unserem Newsletter an als einen der grossen Berner Fotografen des 20. Jahrhunderts. Ziemlich weit gespannt, der Bogen. Ihm, Walter Studer, wär’s vielleicht zu weit. Aber es ist eben schon so, dass wir hier, in unserer diesjährigen Sommerausstellung, einen Fotografen präsentieren, den man kennt, dessen Fotografie aber durchaus noch zu entdecken ist. Wer ein wenig Bescheid weiss über die Berner Fotografie, dem ist Studers Name vertraut: In den letzten Jahren wurden zum Beispiel seine Sozialreportagen aus dem Emmental im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Ereignisse um die administrativ Versorgten und Fremdplatzierten vermehrt publiziert und gezeigt – auch hier im Kornhausforum, oben auf der Galerie. Ebenfalls dort zu sehen waren eine fast schon vergessene Reportage über Sumiswald in den Sechzigerjahren, die er zusammen mit Fredo Meyer-Henn realisierte, und in einer Ausstellung über das Nordquartier seine Gänge frühmorgens durch den nebligen Breitenrain und die Dokumentation des baulichen Umbruchs am Stadtrand im Wankdorffeld. Gleich in der Nähe entstand am Cupfinal 1956 ein Bild mit YB-Stürmer Heinz Schneiter und GC-Goalie Karl Elsener, beide Fussballgötter dieser Jahre, im Luftduell, das zu einer Ikone der Schweizer Sportfotografie wurde. Bei Gelegenheit immer wieder publiziert werden auch die Bilder Studers von der Fussball-WM 1954 im Wankdorf.
Aber was für einer das war, der in den zwanzig Jahren, welche die Ausstellung umfasst, ständig mit der Kamera unterwegs war, was er wirklich gesehen hat und was er mitbekommen hat, neben dem Eigentlichen, das er fotografierte, all die Kleinigkeiten, das Unausgesprochene, das sonst rasch Übersehene, das erschliesst sich einem erst in der Breite des Archivs. Ich konnte es, zusammen mit Studers Sohn Peter, das heisst, eher geführt von ihm, durchschauen. Möglich wurde das, weil Peter Studer den Nachlass seines Vaters seit dessen Tod 1986 mit grossem Verantwortungsgefühl verwaltet, pflegt und in der Archivierung durch vertiefende Angaben zu den Bildern laufend ergänzt. Peter hat nicht nur viele Jahre mit dem Vater zusammengearbeitet, der Beruf und die Arbeit seines Vaters haben ihn vielmehr begleitet, vielleicht nicht immer ganz freiwillig in der Jugend, wenn er, wie die Schwestern oder die Tante, als Fotomodell gebraucht wurde, beim Zahnarzt oder unter dem Tannenbaum, dann aber doch sehr bestimmend in der gleichen Berufung und in der – jedenfalls macht es diesen Eindruck – in der weitgehenden Übereinstimmung des fotografischen Verständnisses. Vielleicht – nein, wahrscheinlich – lebt Peter Studer darum so selbstverständlich mit den Bildern seines Vaters, weil sie nicht bloss Erbe, sondern Teil seines eigenen Lebens sind.
Durch das Archiv gehen, das heisst, durch Hunderte von Kontaktbögen blättern, die thematisch geordnet sind, Landwirtschaft, Militär, Arbeit, Kantone, Länder. Vieles liegt in Vergrösserungen vor, Originalabzügen des Vaters aus der Zeit und neuen Prints aus den letzten Jahren. Eine Bilderflut entwickelt ihren Sog und plötzlich wird der Chronist, der Berichterstatter und Auftragsfotograf, zum freien Erzähler und in seinen Fotografien öffnet sich der zweite Boden. Walter Studer, und jetzt kommen wir eben zu den Superlativen, Walter Studer ist ein grandioser Erzähler. Er hat diesen typischen und sehr speziellen Schweizer Dokumentaristen-Blick, der so trocken sein kann, aber doch enorm sinnlich und hautnah ist, und er hat ein Gefühl für das Szenische, dadurch werden seine Bilder zu atmosphärisch dichten und genau beobachteten Short-Storys, poetisch im Blick, authentisch in der Darstellung. Kurze Geschichten über eine im Rückblick bereits seltsam verlorene Zeit. Sie liegt noch gar nicht so lange zurück, es war die Zeit der Väter und Mütter. Europa nach dem Krieg, die Schweiz zwischen Alp und Atomreaktor.
Walter Studer hatte einen besonderen Blick dafür. Das hat, denke ich, mit seiner Biografie zu tun. Ein Bergler, 1918 geboren, Oberländer, in Adelboden und Frutigen aufgewachsen. Ein bisschen grosse Welt schnuppern in noblen Ferienorten. Und dann, noch nicht 25, selber hinaus in die Welt. Englische Städte – und Fussballstadien – in den Vierzigern, Italien, arm und traurig, ein paar Jahre nach dem Krieg. Aber, vor allem und prägend, Reisen nach Deutschland und Polen 1947 und 1948. Verwüstung und Elend, ein Trümmerhaufen, wo einst in Warschau das Ghetto stand. Stunde Null. Keine Hoffnung. Die hat Walter Studer auch zwölf Jahre später nicht gefunden, als er in Flüchtlingslagern in Österreich fotografierte, Kinder und Jugendliche, in deren Augen man lesen kann, wie viel Schlechtes sie schon gesehen haben.
Bilder wie diese verbleichen nicht. Die Abzüge schon ein wenig, aber nicht im Kopf. Walter Studer jedenfalls suchte Ausgleich. Das Emmental wurde für den Fotografen zum Gegenentwurf, in seiner Arbeit, als Lebensort. Er hat die Region, die so oft als heimattümlerische Projektionsfläche herhalten musste, nie verklärt, er hat nie Idylle fotografiert, aber er hat sich in den Lebensrhythmus dieser Landschaften und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner vertieft. Das Emmental war – das vermute ich jetzt einmal – für ihn eine in sich intakte Welt, so grausam und ungerecht sie auch sein konnte.
Es war nicht nur die Gegenwelt Emmental, die Walter Studer der Zerstörung entgegensetzte. Er hat sich auch einen anderen Blick auf das eigene Land angeeignet oder überhaupt die Orte, an denen er vorbeigekommen ist. Diesen anderen Blick hat er in den Trümmerlandschaften geübt. Eine gewisse Demut leitet ihn, aber es ist kein scheuer Blick, sondern ein sicherer, der sich nichts entgehen lassen will. Walter Studer war einer, der die Dinge begreifen und die Menschen verstehen lernen wollte. Er hat sich nie aufgedrängt, er hat zugehört und zugeschaut. So fotografierte er auch, wie einer, der einem möglichst genau erzählen will, was er gesehen hat. Darin, einem mit einem Bild sozusagen gleichzeitig Totale und Nahaufnahme zu vermitteln, Übersicht und Handlung, hat Walter Studer eine Meisterschaft entwickelt, die ziemlich einmalig ist.
Sein Blick ist auch nüchtern, als könnte wenig ihn wirklich erschüttern. Vielleicht ist es diese Nüchternheit, die seine Fotografien so besonders macht, so unaufregend besonders, denn was hier, bei allem Bemühen um Sachlichkeit, an Emotionen rüberkommt, das ist dann definitiv Leben aus erster Hand: Die Schwermut über der Po-Ebene nach einer Überschwemmung, die basisdemokratische Kraft einer Gemeinderatssitzung auf der Alp, die Wut der Bauern auf dem Bundesplatz.
Mit Demut und Neugier, mit Anteilnahme und nötigem Abstand, aufrecht, offen, sachlich. So muss man sich Walter Studer wohl bei der Arbeit an der Kamera vorstellen. Vermutlich entspricht er ziemlich genau dem Klischee des unauffälligen Zeugen am Rand des Geschehens. Aber wie viel Rand auch immer, einen Draht zu Leuten hat er offenbar jedes Mal gefunden. Sie stehen im Bild wie sie in ihrer Welt stehen würden, auch wenn sie wissen, dass sie fotografiert werden. In der vor-digitalen Zeit, als noch nicht einmal die Fotografie alle Ecken erreicht hatte, zeugt dies von grosser Vertrautheit. Und so schaut man auch gern hin, zu all diesen Leuten auf den vielen Bildern. Und wenn man ihnen Zeit gibt, beginnen sie, logisch, auch zu reden und von sich und ihrem Leben zu erzählen.