Wahrheit? Äh, wieso?

von Stephanie Gräve 13. Dezember 2016

MEIN BEWEGTES 2016. – Anfang Jahr wurde Stephanie Gräve am Stadttheater Bern als Schauspieldirektorin freigestellt. Im Juli erhielt sie rund 200’000 Franken Abfindung. Bis heute wundert sie sich über die postfaktische Kommunikation dieses Hauses.

Es ist so eine Sache mit den Wörtern des Jahres: postfaktisch nun also. Ein überschätzter Modebegriff?! Leider nicht, wie demokratische Wahlen und Abstimmungen der letzten Monate zeigen. «Der Appell an die Wahrheit – so altväterisch er klingen mag – ist überlebenswichtig für demokratische Gesellschaften», warnte der Berner Philosoph Eduard Kaeser schon vor der US-Wahl, dem Supergau des Postfaktischen. Denn: Demokratie ist die Gesellschaftsform, in der sich die Macht dem Argument beugt, nicht umgekehrt. Und das Argument setzt, soll es überzeugen und zum Guten führen, geprüftes Wissen voraus. Deshalb wird unsere «Nichtwissenwollengesellschaft», wie Kaeser sie bezeichnet, für die Demokratie zur Gefahr.

Dem postfaktischen Zeitalter zum Trotz: Im Alltag halten wir (naiv?) an der Hoffnung fest, was uns von Journalisten schwarz auf weiss präsentiert werde, möge die Wahrheit sein. Und es sei im Interesse aller, Fehler schnellstmöglich zu korrigieren. Doch so einfach ist es nicht.

Dichtung und Wahrheit am Stadttheater

Am 3. November schrieb die Berner Presse zu den vielen Kündigungen im Schauspielensemble des Stadttheaters, den freiwilligen wie den unfreiwilligen. Schon im ersten Artikel beeindruckte die kreative Auslegung der Vorgänge. Der Intendant wusste im Bund zu vermelden: Woanders werden bei einem Leitungswechsel nahezu ganze Ensembles ausgetauscht. Ganz offensichtlich war ihm entfallen, und niemand wies ihn darauf hin, dass es sich hier nicht um einen ganz normalen Leitungswechsel handelte, wie er sonst alle fünf, zehn Jahre geschieht. Dazu hatte man noch im März verkündet, man wolle mit diesem Ensemble in die Zukunft gehen – es habe sich um wenig Zukunft gehandelt, konstatierten die Journalisten.

In einem zweiten Artikel (in der BZ) wurde der Umgang gleichentags mit den Fakten noch, nun ja, beweglicher. Da äusserte der Intendant: «Diese jungen Ensemblemitglieder (gemeint sind die vier freiwilligen Abgänger) haben ihren Wunsch, weiterzuziehen, schon Ende 2015 geäussert.» Also schon vor dem Eklat um die Freistellung der Schauspieldirektorin, schlussfolgerte der Journalist, was ihm an sich nicht vorzuwerfen ist. Nur hatte die Sache einen nicht unwesentlichen Schönheitsfehler: Die Aussage des Intendanten entsprach schlicht nicht der Wahrheit. Nur ein Ensemblemitglied hatte dieses Anliegen im Dezember geäussert. Ein unschöner Vorgang; doch ich verspürte wenig Lust, mich lang mit der Sache aufzuhalten, formulierte eine knappe Richtigstellung und schickte sie an den zuständigen Redaktor.

Eine BZ-Pirouette der Peinlichkeit

Es war schwieriger als gedacht. Zunächst erreichte mich die Nachfrage, warum diese zeitliche Unterscheidung überhaupt wichtig sei. «Äh, was?», fragte ein Freund, selbst im Online-Medienbereich tätig. «Was soll denn die Frage? Es geht doch darum, dass es nicht die Wahrheit ist. Und eine Unwahrheit sollte nicht unwidersprochen in der Zeitung stehen. Was gibt es da zu begründen? Schreib ihm, er solle es korrigieren, weil es nicht wahr ist. Punkt.»

Wie auch immer. Ich schrieb geduldig eine weitere Mail, warum uns diese Unterscheidung wichtig sei. Der Journalist erklärte, er könne «die Richtigkeit meiner Aussage nicht überprüfen». Er könne schon beim Theater nachfragen, grundsätzlich aber müsse ich mich selbst mit dieser Forderung ans Theater wenden. Ich schrieb eine Mail ans Präsidium des Stiftungsrats. Daraufhin passierte für längere Zeit – nichts.

Die BZ-Berichterstattung liess auch den betroffenen jungen Ensemblemitgliedern keine Ruhe. Ich weiss nicht, ab wann und wie genau sie mit der Zeitung in Kontakt traten. Fast zwei Wochen später jedenfalls machten sie mich auf eine unscheinbare Ergänzung in der Onlineversion des Artikels aufmerksam, dass drei der namentlich genannten SchauspielerInnen der Darstellung des Intendanten widersprochen haben. Für Leser ohne Hintergrundwissen (wenn sie denn überhaupt auf die Veränderung stiessen) war relativ schwer durchschaubar: Wer sagte nun hier die Wahrheit, wer nicht? Von meiner eigenen Richtigstellung keine Spur. Und keine Antwort vom Stiftungsrat. Ein schales Gefühl blieb.

Wie wär’s mit der Doch-Wahrheit?

Traurig, dass junge KünstlerInnen, die erst vor einem guten Jahr unbelastet und hoffnungsvoll für den Beginn ihrer beruflichen Laufbahn nach Bern gekommen waren, die ohnehin schon eine verstörende Erfahrung hinter sich hatten, nun auch noch dies erleben mussten: Dass es nicht ausreicht, eine Unwahrheit als solche zu benennen, damit sie schnellstens und gründlich korrigiert wird. Diese Erfahrung, das Gefühl, Lügen ausgeliefert zu sein, nicht wirklich eine Stimme zu haben, ist existenziell erschütternd. Es ist ein Gefühl, das man Menschen eigentlich ersparen sollte. Ich weiss, wovon ich rede – verglichen mit anderen rufschädigenden (und unwahren) Äusserungen des Intendanten über mich fiel diese neue Behauptung unter: Peanuts.

Zwischenzeitlich wurde in Bern gewählt, mit ungewöhnlich hoher Beteiligung. Wenn auch nicht alle Ergebnisse jeden glücklich machen, wenn es auch minimale Störgeräusche in Form gefälschter Wahlzettel gab, zeigte sich doch wieder: eine funktionierende und lebendige Demokratie. Eduard Kaeser weiss sehr wohl, was gerade die Schweiz, was eine Gesellschaft zu verlieren hat, wenn das Nichtwissenwollen überhand nimmt.

Fakten sind im postfaktischen Zeitalter eine komplizierte Angelegenheit – wenn nämlich die Nicht-Wahrheiten und Nicht-Fakten am Ende doch zu neuen Wahrheiten und Fakten führen. Der Brexit zum Beispiel wird vollzogen, Trump wird voraussichtlich Präsident. Vielleicht wäre es besser, wir suchten einen Weg zurück zur Doch-Wahrheit?