Vorzeigeprojekt am Wendepunkt?

von Rita Jost 13. Februar 2023

Als Ende 2022 bekannt wurde, dass im Berner Haus der Religionen Zwangsheiraten durchgeführt worden waren, reagierte die Leitung des Hauses und die Öffentlichkeit schockiert. Ein Vertrag soll ähnliche Vorkommnisse künftig ausschliessen. Reicht das? Und was bewirkten die verstörenden Schlagzeilen für das Vorzeigeprojekt und für den interreligiösen Dialog? Ein Gespräch mit HdR-Geschäftsführerin Karin Mytkytjuk.

 

Journal B: Das Haus der Religionen hatte jahrelang den Ruf eines unangefochtenen Vorzeigeprojekts. Die Nachricht von den Zwangsheiraten war deshalb für viele unverständlich. Wie haben sich die Nachrichten auf den Betrieb ausgewirkt?

Karin Mykytjuk-Hitz: Es war eine turbulente Zeit, wir bekamen sehr viele Anfragen, von innen und aussen, doch unterdessen können wir uns wieder auf das Tagesgeschäft konzentrieren. Besuchende sprechen uns ab und zu darauf an, dann nehmen wir Stellung; aber es gibt auch Leute, die haben gar nichts mitbekommen. Und bei unseren Geldgebern gab es – zum Glück! – keine negativen Reaktionen. Die Stadt Bern unterstützt den Dialogbereich weiterhin mit 300 000 Franken. Ein grossartiges Geschenk! Insgesamt stelle ich fest, dass der Vorfall das Profil unseres Hauses sogar geschärft hat.

Wie das?

K. M. Dass es im Nachgang der Medienbeiträge eine intensive Diskussion rund um Zwangsehen gab, erachte ich als Chance. Wir haben diese Fragen in den letzten Jahren im Haus immer wieder thematisiert. Nun haben wir aber merken müssen, dass Theorie und Praxis auseinanderklaffen. Einzelnen Leuten war offenbar nicht klar, dass in der Schweiz vor einer Eheschliessung die zivile Trauung auf dem Standesamt passieren muss. Wir haben uns jetzt einen Code of Conduct gegeben. Diesen Vertrag haben nun alle im Haus beteiligten Religionsgemeinschaften unterschrieben. Es ist ein für alle verbindlicher Verhaltenskodex. Wir müssen die Fragen rund um die Zwangsheiraten aber auch im Alltag immer wieder thematisieren. Nicht indem wir die einzelnen Religionsgemeinschaften bevormunden und ihnen schulmeisternd die Gesetze vortragen, sondern im Alltag, in Gesprächen auf Augenhöhe. Und mit der Botschaft: wir sind da, wenn es Fragen gibt.

Hätte das nicht viel vorher passieren müssen?

K. M. (denkt lange nach) Ja, vielleicht. Wir sind selbstverständlich davon ausgegangen, dass allen Verantwortlichen in den Religionsgemeinschaften die gültige Rechtslage bekannt ist. Anderseits musste ich im Zusammenhang mit dieser Geschichte feststellen, dass auch vielen Angehörigen hiesiger Religionen nicht klar war, dass kein Paar ohne zivilrechtliche Trauung religiös getraut werden darf. Wir hatten bereits vorher ein Leitbild, das sich auf eine UNO-Resolution abstützt, das die Menschenrechte anerkennt. Es hat sich aber gezeigt, dass die etwas abstrakt formulierten Artikel, nicht von allen gleichermassen verstanden werden. Und wir dürfen nicht vergessen: wir sind eine lernende Organisation. Wir werden immer wieder mit Konflikten konfrontiert, die nicht vorausgesehen und geregelt wurden. Oft war es auch so, dass Familien z.B. eine Heirat wünschten, weil gerade Angehörige aus dem Ausland da waren. Dann wurde gesagt, die zivilstandesamtliche Trauung holen wir dann nach. Das geht natürlich jetzt nicht mehr und hätte auch vorher so nicht stattfinden dürfen.

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Andere Glaubensgemeinschaften mussten also auch über die Bücher.

K. M. Ja, wir sind alle erschrocken. Und haben uns gefragt: Wie konnte das passieren? Wir führten viele Gespräche. Und haben dabei gemerkt, dass in vielen Glaubensgemeinschaften eheähnliche Feiern und Segnungen durchgeführt werden, weil es ein Paar oder die Familie wünscht. Diese haben aber für die Paare und Familien – obwohl rechtlich nicht verbindlich – eine hohe soziale Verbindlichkeit. Ich habe im Austausch mit der Fachstelle Zwangsheirat erfahren, dass solche Feiern problematisch sein können. Mir ist es deshalb ein Anliegen, dass wir mit den Familien sprechen, die ihre Söhne und Töchter nach ihren Vorstellungen verheiraten wollen.

Aber reicht das? Braucht es nicht noch mehr und weitergehende Massnahmen. Auch zur allgemeinen Aufklärung?

K. M. Doch. Wir planen eine Schulung zusammen mit der Fachstelle Zwangsheirat. Man muss wissen: es gibt schweizweit etwa 350 Meldungen zu Zwangsheiraten bzw. -ehen pro Jahr. Täglich eine! Das ist schockierend.

Der Imam des Muslimischen Vereins Bern Mustafa Memeti hat im Nachgang zu den Ereignissen seinen Rücktritt angekündigt. Kann die Leitung des Hauses bei der Neubesetzung seiner Stelle mitreden?

K. M. Nein, die Stellenbesetzung ist Sache des Muslimischen Vereins. Wir von der Geschäftsleitung haben kein Mitspracherecht. Es gibt nun auf der Homepage des Muslimischen Vereins Bern seit kurzem eine Ausschreibung für das Amt des Imams. Dem Verein sind die Anforderungen für einen Imam in unserem Haus bekannt.

Welche Anforderungen sind das?

K. M. Es braucht ein spezielles Engagement über die Abdeckung der religiösen Bedürfnisse der Gemeinschaft hinaus. Ein Imam muss bereit sein, im Dialog nach innen und aussen zu stehen. Imame sind heute in der Schweiz nicht nur religiöse Begleiter und Seelsorger für Ratsuchende, sondern auch Gesprächspartner bei ganz verschiedenen Problemen. Sie brauchen daher eine insgesamt sehr gute und mehrsprachige Gesprächskompetenz und Vernetzung, um Ratsuchende auch an geeignete Fachstellen weiterleiten zu können. Der Muslimische Verein Bern hat übrigens seit kurzem auch einen neuen Präsidenten. Er ist jung, hier aufgewachsen und Jurist. Das sind gute Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit.

Die Religionsgemeinschaften im Haus der Religionen sind teilweise als Vereine organisiert. Ist das ein Problem?

K. M. Zum Teil sicher. Das Vereinsrecht schreibt in der Schweiz vor, dass die Struktur und die Finanzen öffentlich einsehbar sind. Das setzt eine gewisse Professionalität voraus, welche die ehrenamtlich Tätigen oft unterschätzen bzw. nicht leisten können. Hierzu sollten sie ihren Bedarf ausloten und sich Unterstützung holen. Wenn sie aber finanzielle Hilfe beanspruchen wollen, dann verlangen beispielsweise Stiftungen, dass diese Angaben korrekt sind. Und die Gemeinschaften müssen eigenverantwortlich Anträge stellen. Wir können ihnen behilflich sein, aber die Anfrage muss von ihnen kommen.

Die Ökumene, der interreligiöse Dialog, ist momentan etwas ins Stocken geraten. Das ist jedenfalls ein Eindruck, den man als Aussenstehende gewinnt.  Stimmt der Eindruck?

K. M. Ja, ich habe diesen Eindruck auch. Es reicht nicht, zusammen schöne, farbenfrohe Feste zu feiern. Wir müssen in Zukunft auch wegkommen vom eher intellektuellen Austausch unter Religionsprofis. Wir müssen uns stärker den sozialen und kulturellen Fragen widmen. Den Fragen nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach Partizipation in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Wir als Haus müssen uns immer wieder fragen, welchen Beitrag können wir da leisten.

Und was ist Ihre Antwort?

K. M. Wir werden nächstens – öffentlich oder halböffentlich – eine Diskussion organisieren, bei der es darum geht, wohin uns der Interreligiöse Dialog in Zukunft bringen soll. Wir müssen eine zunehmende Vernetzung der verschiedenen Gruppen erreichen. Wir müssen den Dialog meiner Meinung nach auf ganz verschiedenen Ebenen verwirklichen.

Das tönt etwas nach dem Ende der Gemütlichkeit. Jetzt wird’s ernst.

K. M. Man kann Religion und Kultur und soziale Hintergründe nicht komplett voneinander trennen. Sie sind verwoben. Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine stetige Herausforderung, nicht nur für unser Haus. Über Religion zu sprechen, ein gemeinsames Vokabular zu finden, das ist eine grosse gesamtgesellschaftliche Herausforderung der nächsten Jahre. Und vielleicht werden uns die jungen Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte noch erstaunen. Sie sprechen vergleichsweise unbekümmert und offen über ihre Religion und besitzen die Fähigkeiten, sich mit anderen Menschen über das Thema Religion auszutauschen.

Auch über Zweifel und Skepsis an der Religion – oder ist das tabu?

K.M. Das ist ein Jugendthema par excellence unter Zweitgenerationsmigrant:innen. Ist die Religion meiner Eltern auch meine Religion? Fragen sie. Und wenn ja: wie möchte ich meine Religion verstehen und leben? Wenn nein: wie gehe ich mit den daraus resultierenden Folgen um? Es kann dann innerhalb der Familien und der Gemeinschaften zu Herausforderungen kommen, muss es aber nicht. Diese Menschen wollen wir als Haus auch begleiten können.

Das Haus der Religionen im Westen von Bern. (Foto: Stefan Maurer)

Wie können Sie sie unterstützen?

K. M. Das ist eine weitere grosse Frage. Alle Religionsgemeinschaften haben Nachwuchsprobleme. Die Jungen, die hier aufgewachsen sind, haben nicht selten eine ganz andere Beziehung zum Glauben als noch ihre Eltern. Säkularisierung und Pluralisierung sind überall wichtige Themen. Wir stellen aber fest, dass das Bedürfnis nach Spiritualität und die Auseinandersetzung mit Religion in allen Gemeinschaften vorhanden ist – nicht nur bei den Jungen.

Werden diese Fragen an die Priester und Imame herangetragen?

K. M. Ich denke: eher selten. Diese Fragen werden unter Gleichaltrigen diskutiert. Es wäre deshalb wichtig, dass es in allen Glaubensgemeinschaften Jugendgruppen gibt, aber beispielsweise auch Frauengruppen. Da wünsche ich mir Entwicklung. Im Dialogbereich versuchen wir neu mit einem «MigranTisch» solchen und weiteren Themen Platz zu geben.

Wie lautet Ihre Zukunftsprognose?

K. M. Ich denke, es wächst eine neue Generation von religiös nicht ganz Unbeteiligten aber eher Institutionsfernen heran. Es wird intersektionaler diskutiert. Es geht um mehr als «nur» um Religion. Aber Religion ist nie nur persönlich. Es wird immer eine Gruppe von Menschen geben, die das Gemeinschaftserlebnis mit anderen sucht. Die Jungen treffen sich vielleicht nicht am Samstagnachmittag zum Kaffee. Sie stehen voll im Leben, studieren Jus, Soziale Arbeit oder Psychologie, und engagieren sich, weil sie eine Lücke sehen, die sie durch ihren kulturellen Hintergrund schliessen können. Die 2. Generation – das sagt die Statistik – verwirklicht oft die Berufswünsche der 1. Generation, so ist vielen auch die wirtschaftliche Sicherheit und der soziale Aufstieg wichtig. Junge Menschen mit Migrationsgeschichte studieren eher selten Ethnologie, Kunstgeschichte oder Phil 1-Fächer. Der Gedankenaustausch wird fluider, aber insgesamt demokratischer und gleichberechtigter. Es braucht Zeit. Und es braucht den Generationenwechsel.

Sie haben ihre Stelle 2020 angetreten und mit Corona und Lockdown gleich einen steilen Einstieg gehabt. Nun kam noch der Schock mit dem Bekanntwerden der Zwangsheiraten. Haben Sie je bereut ihre Stelle an der Uni für dieses Amt aufgegeben zu haben?

K. M. (Lacht schallend) Ich habe sehr gerne an der Uni gearbeitet. Als ich hier anfing, war fertig mit überlegtem Forschen. Ich musste von Beginn weg entscheiden, handeln, reagieren. Unsere Vereinspräsidentin, Regula Mader, sagte mir bei einem unserer ersten Gespräche nach Stellenantritt: Die Uni, das war eine geschützte Werkstatt! Und sie hat recht. Hier im Haus passiert das Leben. Hier stellen sich die Probleme unmittelbar eins zu eins. Man muss handeln, entscheiden, den Alltag bewältigen und kann nicht zu allem erst eine fundierte Analyse erarbeiten. Aber es macht mir Spass und bereitet mir Freude, mit so vielen verschiedenen Menschen, Hoffnungen und Bedürfnissen umzugehen. Ich bereue den Wechsel nicht.