Vorbei ist nicht vorbei

von Christoph Reichenau 14. Juni 2023

«Zeichen der Erinnerung» (ZEDER) heisst das Projekt des Kantons Bern. Erinnert werden soll an die Zeit der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Ein Reissnagel, gestaltet vom Grafiker Claude Kuhn, symbolisiert das Projekt: Es soll haften bleiben, es sticht und schmerzt.

Das Berner «Zeichen der Erinnerung» läuft seit zwei Wochen. 166 Gemeinden machen mit, darunter auch die Stadt Bern. Auf dem Bahnhofsplatz und rund um das Kornhaus regt eine Plakatausstellung zum Stehenbleiben und Nachdenken an.

Am Anfang des Projekts stand 2006 eine Motion der damaligen Grossrätin Christine Häsler, die vom Grossen Rat auf Empfehlung der Berner Regierung abgelehnt worden ist. Es folgte 2019 im Kantonsparlament ein Vorstoss von Hervé Gulotti und Tanja Bauer. Er war erfolgreich. In der Folge startete der Kanton Bern das Projekt ZEDER. Er folgte damit einem Aufruf des Bundesrats.

Was auf den ersten Blick als unprätentiöse Plakataktion daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als vielschichtiges Vermittlungsprojekt, das eine breite Öffentlichkeit anspricht. Geleitet vom Symbol des Reissnagels geben die 20 Plakate einen ersten Blick auf zentrale Themen administrativer Versorgung. QR-Codes leiten weiter zur Projektwebsite, die Informationsplattform, Lehr- und Lernmittel, Mediathek und medialer Erinnerungsraum zugleich ist.

Nebst historischem Quellenmaterial und Arbeitsblättern für die Schulstube bietet die Seite auch Kontakte zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die bereit sind, über ihre Geschichte, ihre Erfahrung, ihren weiteren Lebensweg und ihren Schmerz zu reden. Was einfach und niederschwellig daherkommt, ist das Werk eines breitabgestützten Projektteams. Geführt von der GmbH für Angelegenheiten sind u.a. ein Beirat ehemals Betroffener, Didaktiker der PH Bern, Behördenvertreter und auch Bildspezialisten involviert.

Eröffnung

Startpunkt der Aktion war der Anlass am 25. Mai in Köniz. Es wurden Reden gehalten, umrahmt von der Musik zweier Handörgeler mit jenischen Wurzeln, und es wurde gedankt, bevor im Schlosshof die Menschen beim Apéro zueinander fanden und ihre Erinnerungen, ihre Empörung, ihre Gedanken zu Menschenwürde und Menschenrechten austauschten.

Alle Worte der Rednerinnen und Redner waren würdig und ernsthaft. Zwei Voten fielen wegen ihrer persönlichen Art besonders auf, jene des Projektleiters Urs Rietmann und die der Regierungspräsidentin Christine Häsler. Rietmann wies anhand der Lage seiner Mutter auf die Schwierigkeit des Erinnerns hin. Christine Häsler wandte sich direkt an die anwesenden ehemaligen Opfer. Hier ein Auszug aus den beiden Reden:

Urs Rietmann:

«Wenn ich meine Mutter anrufe, am Abend um 7, und sie frage, wie es ihr geht und wie ihr Tag gewesen ist, dann findet sie darauf keine Antwort. Und wenn ich sie frage, was es zum Znacht gegeben hat, vor einer halben Stunde, dann weiss sie das nicht mehr. Es ist, als hätte sich eine weisse, dicke Nebeldecke über die Landschaft ihres Erinnerns gelegt.

Es gibt Leute, die würden sich gerne erinnern, können es aber nicht. Und es gibt Leute, die könnten sich erinnern, wollen es aber nicht. Und dann gibt es Leute, die sich erinnern können. Und das auch wollen. Deshalb sind wir hier.

Wir sind hier, weil der Kanton Bern die in Artikel 16 des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 formulierte Absicht des Bundesrats, ein Zeichen der Erinnerung zu schaffen, sehr ernst genommen hat.

Als meistbetroffener Kanton wollte der Regierungsrat nicht irgendwo zwischen Oberland und Jura ein Denkmal errichten. Vielmehr liess er sich von der Idee überzeugen, das Berner ‘Zeichen der Erinnerung’, oder: ZEDER, wie wir es einfachheitshalber und liebevoll nennen, dort zu setzen, wo die Zehntausenden von Opfern gelebt und gelitten haben: In den Städtchen, Dörfern, Weilern zwischen Schattenhalb und Tramelan.

Im vergangenen Herbst hat der Kanton alle der über 300 bernischen Kommunen eingeladen, sich für das Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ zu engagieren. Diesen Weg einzuschlagen, war mutig. Denn: Was wäre gewesen, wenn nur 20 oder 30 Gemeinden halbherzig bereit gewesen wären, Zeit und Geld für die Beschäftigung mit einem schmerzhaften Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte zu reservieren?

Beim Berner ‘Zeichen der Erinnerung’ sind 166 Gemeinden dabei. Mit diesen erreichen wir 75% der Berner Bevölkerung sehr direkt. Und während wir hier versammelt sind, sind an gegen 100 Orten im ganzen Kanton Vorbereitungen im Gange, um heute Abend ein Zeichen gegen das Vergessen zu setzen.»

Christine Häsler:

«Liebe Ursula Biondi, chère Liselotte Gerber, lieber Heinz Kräuchi, lieber Alfred Ryter, lieber Christian Studer, liebe Uschi Waser

Ich freue mich, Sie alle persönlich zu treffen. Ihnen allen, Ihrer Kraft, Ihrem Mut und Ihrer Bereitschaft zu sprechen, verdanken wir, dass die Geschichten der Verdingkinder und der Opfer von administrativer Willkür nicht vergessen gehen. Diese Geschichten all jener vielen Kinder und Erwachsenen, denen die Behörden Unrecht getan und unendliches Leid zugefügt haben, sie zerreissen uns das Herz.

Anna, eine herzliche Frau, war in meiner Kindheit oft bei uns zu Besuch. Sie hat mich geprägt. Als Kind hatte es Anna nicht gut. Sie wurde fremdplatziert, herum geschoben von halbherzigen zu herzlosen Menschen, hatte Heimweh und eigentlich nur damals eine gute Zeit, als es ihr gelang, ihrem Grossvater ein Brieflein zu schreiben. Er holte sie für eine kleine glückliche Weile ins grosselterliche Zuhause. Doch dann kamen neue Entscheide und Anna musste wieder weg. Anna hätte wie alle Kinder Geborgenheit und Zuwendung gebraucht und verdient. Doch sie war der Willkür von Behörden und Erwachsenen ausgeliefert.

Wer der Zukunft gerecht werden will, muss bereit sein, zurück zu schauen und sich den Fehlern zu stellen. Der Regierungsrat des Kantons Bern will sich dieser Vergangenheit stellen und daraus lernen. Mit diesem Zeichen der Erinnerung tragen wir diese Botschaft heute in den Kanton hinaus.

Aber letztlich tragen Sie das Allerwichtigste dazu bei. Sie vertrauen uns Ihre Geschichten an. Von Ihnen dürfen wir lernen. Das erfüllt mich mit tiefer Demut und grosser Dankbarkeit. 

Unsere Gesellschaft hat Sie und alle anderen Betroffenen viel zu lange nicht wahrgenommen. Nicht gesehen. Nicht gehört. Nicht gewürdigt, wie interessante, starke und wertvolle Persönlichkeiten Sie sind. Ihnen gehört unser Dank für dieses Zeichen der Erinnerung, das Sie zusammen mit vielen Engagierten geschaffen haben. Ich wünsche unserer Gesellschaft sehr, dass dieses Zeichen in den Gemeinden, Kirchgemeinden, Klassenzimmern und Vereinslokalen, in unserem ganzen Kanton Verständnis, Mitgefühl und Respekt auslöst. Was Ihnen angetan wurde, darf nie wieder geschehen.

Mein Respekt gehört Ihnen, Ihrer Kraft und dem Mut, den Sie aufbringen, Ihre Geschichte zu erzählen damit wir aus ihr lernen. Sie machen uns ein grosses Geschenk damit – Danke!

Ich habe Ihnen ein kleines symbolisches Geschenk mitgebracht. Diese Kristalle sind vor Urzeiten durch die Kräfte der Natur entstanden. Tief im Berg. Ganz lange hat niemand sie gesehen. Jetzt sind sie hier im Licht und strahlen. Jeder ein Einzelstück, jeder ein Wunder – einzigartig, wunderschön und wertvoll. Wie Sie alle!»

Zum Beispiel Hindelbank

Am 7. Juni fand in Hindelbank, einer der 166 mitmachenden Gemeinden, eine Feier statt. Die Direktorin der Justizvollzugsanstalt, in welcher bis 1981 die administrativ versorgten Frauen eingesperrt waren, zwei Mitglieder des Gemeinderats und eine Pfarrerin verurteilten das Geschehene und wiesen auf seitherige Verbesserungen hin. Das Credo: Achten wir auf unser heutiges Tun; wir wissen nicht, wie die nachfolgende Generation darüber urteilen wird. Zuletzt wurde eine Plakette mit dem mahnenden Reissnagel als Symbol enthüllt, angebracht an der Gartenbalustrade des Schlosses, das zur Justizvollzugsanstalt gehört.

Hindelbank ist eine von zahlreichen Gemeinden. Es ist auch eine besondere Gemeinde. Im Festsaal des Schlosses fand 2010 jene Konferenz statt, an der die damalige Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf im Namen des Bundesrates die administrative Versorgung als Unrecht bezeichnete und die davon Betroffenen  um Entschuldigung bat.

Schloss Hindelbank, nach dem Entschuldigungsanlass bei den Betroffenen von administrativer Versorgung vor 1981. vlnr.: Madeleine Ischer, die damalige Bundesrätin Widmer-Schlumpf, Ursula Biondi und Gina Rubeli Eigenmann, 20. September 2010. (Foto: © Yoshiko Kusano).

Wir alle

Erinnern ist gut. Reden ist gut. Doch falsch wäre es zu denken, alles Böse, Unmenschliche, Herzlose habe 1981 geendet. Denken wir nur an die Kinder von Fremdarbeitern, die nach Schweizer Recht Jahrzehnte lang nicht hier sein durften, sich verstecken mussten, eine Kindheit in Angst und Unfreiheit verbrachten. Ähnlich geht es bis heute vielen Asylsuchenden, vorläufig Aufgenommenen, Sans Papiers.

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Wir lernen immer nur Schritt für Schritt. Wichtig wäre es, aus der Erinnerung einen neuen Massstab zu gewinnen für menschliches, faires, anständiges Verhalten. Wichtig wäre es, hinzusehen, auch auf die Verhältnisse in Familien, in Heimen. Dass es die KESB gibt, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, ist ein Fortschritt. Doch sie entbindet uns nicht davon, individuell aufmerksam zu sein und den Mut zu haben, nachzufragen oder einzugreifen. Denn vorbei ist nicht vorbei. Weder für die einstmals Betroffenen, noch für uns alle. Wenn wir den Opfern Respekt bezeugen wollen, achten wir auf das, was heute vorgeht – und was wir verhindern können. Wir alle.