Von der Entfremdung erzählen

von Willi Egloff 18. April 2024

Literatur Am kommenden Mittwoch eröffnet Amir Gudarzi das Lesefest «Aprillen» im Schlachthaus. Der iranisch-österreichische Autor hat soeben seinen ersten Roman veröffentlicht.

Seit nunmehr 11 Jahren wird im April im Schlachthaus jeweils vier Tage lang gelesen und über Literatur gesprochen. «Aprillen» nennt sich dieses von Sandra Künzi und Tabea Steiner intiierte und kuratierte Berner Lesefest. «Im April Brachland pflügen» bedeutet der frühhochdeutsche Ausdruck «aprillen», und genau das machen die Veranstalterinnen mit spürbar grosser Lust.

Den Auftakt macht am Mittwoch der iranische Theaterautor Amir Gudarzi. 2009, im Anschluss an die ersten grossen Demonstrationen in seinem Heimatland, musste der damals 23-Jährige fliehen und landete im österreichischen Aufnahmezentrum Traiskirchen. Heute, nur fünfzehn Jahre später, ist er auch im deutschsprachigen Raum ein erfolgreicher Theaterautor, der bereits zahlreiche Preise erhalten hat. Zurzeit ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim in Deutschland.

Das Ende ist nah

Im Herbst letzten Jahres erschien Gudarzis erster Roman, in deutscher Sprache geschrieben, mit unübersehbaren österreichischen Einsprengseln. «Das Ende ist nah» heisst das durchaus verstörende Werk. Es schildert den Leidensweg eines iranischen Theaterautors durch das österreichische Asylverfahren, die zahllosen Beschimpfungen und Erniedrigungen, die ihm dort widerfahren, aber auch die punktuelle Hilfe, die er erhält.

Es ist die Darstellung eines Menschen, der durch die erzwungene Flucht seine Sprache und seinen sozialen Status verliert und an diesem Verlust zu verzweifeln droht.

Es blickt zurück auf seine Kindheit und Studienzeit in Teheran, die von staatlichem Terror und religiöser Unterdrückung geprägt ist. Und es schildert Beginn und Ende seiner Bekanntschaft mit einer deutschen Studentin, welche seine Stücke und Gedichte ins Deutsche übersetzt, mit welcher er viele Interessen teilt, mit der er aber dennoch keine gleichberechtigte Beziehung aufbauen kann.

Was auf den ersten Blick ein persönlicher Erfahrungsbericht zu sein scheint, ist bei näherer Betrachtung sehr viel mehr. Es ist die Darstellung eines Menschen, der durch die erzwungene Flucht seine Sprache und seinen sozialen Status verliert und an diesem Verlust zu verzweifeln droht. Zwar spricht er leidlich Englisch, doch hilft ihm dies in seiner österreichischen Umgebung nicht viel weiter.

Wenn er dann zufällig irgendwo eine Arbeit findet, wird er ausgebeutet und um seinen Lohn betrogen.

Die Leute, mit denen er sich in seiner Muttersprache verständigen kann, von den anderen Flüchtlingen aus Afghanistan oder Iran bis hin zum Übersetzer im Asylverfahren, sind seine Feinde, die ihn körperlich und psychisch misshandeln. Immer wieder leidet er Hunger, weil ihm kein Geld zur Verfügung steht. Wenn er dann zufällig irgendwo eine Arbeit findet, wird er ausgebeutet und um seinen Lohn betrogen.

Diese entfremdenden Lebenserfahrungen bringt Gudarzi auch sprachlich zum Ausdruck: Seine Erlebnisse in Österreich erzählt er in der Ich-Form. In den Rückblicken auf seine Zeit im Iran nennt er die Hauptfigur A., was im Asylverfahren die Abkürzung für «Antragsteller» ist, und erzählt in der dritten Person. Diese Dualität kulminiert dann während der Anhörung über seine Asylgründe darin, dass er die ganzen Umstände des Verfahrens in der Ich-Form beschreibt, seine Antworten auf die Fragen der Asylbeamtin aber als «A.» wiedergibt.

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Wie Gudarzi in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk erläuterte, versucht er damit zum Ausdruck zu bringen, dass er «A.» – sowohl im Iran als auch in Österreich – lediglich als Objekt staatlichen Handelns sieht, und dass die Hauptfigur erst von dem Moment an zum Ich wird, als er in Österreich zu sich selbst findet und eine eigene Persönlichkeit entwickeln kann.

Ambivalente Beziehungsgeschichte

Die zweite Hauptfigur des Romans ist eine deutsche Studentin, die in Wien an einer Dissertation arbeitet. Sie interessiert sich für die Ereignisse im Iran und spricht auch etwas Farsi. Anlässlich einer Demonstration vor der iranischen Botschaft stösst sie auf den gerade obdachlosen A. und nimmt ihn mit nach Hause.

Später wird sie das Theaterstück, das er aus dem Iran mitgebracht hat, und seine Gedichte ins Deutsche übersetzen. Sie sucht für ihn eine Unterkunft und unterstützt ihn auch finanziell. Trotz dieser Verbundenheit entwickelt sich keine konstruktive Beziehung, sondern eine zunehmende Entfremdung.

Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist eine Lüge. Ab jetzt will ich die Wahrheit offenlegen. Ab jetzt gibt es die wahre Geschichte.

Allerdings sollte wohl auch dieser Teil des Romans nicht autobiographisch verstanden werden. Gudarzi schildert ein Paar, das sich trotz Fehlen einer Sprachbarriere und trotz gemeinsamer Interessen zwar schrittweise näher kommt und trotzdem keinen Halt aneinander findet.

Ganz am Schluss des Buches beschreibt Gudarzi diese selbstzerstörerische Verwicklung als Albtraum: «Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist eine Lüge. Ab jetzt will ich die Wahrheit offenlegen. Ab jetzt gibt es die wahre Geschichte.» Diese aber müssen sich die Leser:innen selber zurechtlegen.