Von der Berner Handfeste bis zum 1. August

von Noah Businger 1. August 2023

Erfundene Geschichte Am ersten August werden gerne die eidgenössischen Gründungsmythen beschworen. Zeit sich zu fragen, weshalb und wie diese Geschichtsbilder zustande gekommen sind.

Zuvorderst in der Länggasse liegt der Grundstein der Stadt Bern eingelagert. Tief unter der Erde verwahrt das Staatsarchiv Bern seine ältesten und wertvollsten Bestände, so auch die sogenannte Berner Handfeste. Dabei handelt es sich um eine Urkunde von 1218, auf der die von König Friedrich II. der Stadt Bern verliehenen Stadtrechte festgehalten sind. Der damalige Herrscher des Heiligen Römischen Reichs erhob Bern damit zur freien Stadt.

Die Freiheiten der Handfeste ermöglichten Bern das städtische Territorium zu erweitern und zum grössten Stadtstaat nördlich der Alpen zu werden. In den Jahrhunderten danach entstand in Bern eine Erinnerungskultur, welche die Handfeste als Grundlage der Berner Herrschaftsausdehnung inszenierte.

Doch diese Geschichte hat einen Haken: Bei der Berner Handfeste handelt es sich nämlich erwiesenermassen um eine Fälschung. Wie 2019 Untersuchungen der Universität Bern zeigten, liess der Berner Rat die Urkunde zwischen 1245 und 1255 im Kloster Frienisberg herstellen. Die Handfeste hat Friedrich II. nie zu Gesicht bekommen.

Die Handfeste ist im Namen Friedrichs II. verfasst. (Foto: Noah Businger)

Warum aber gab Bern diese Fälschung in Auftrag? Von 1245 bis 1273 konnte sich im Reich kein Herrschaftsanwärter dauerhaft auf dem Königsthron durchsetzen. Bern nutzte diese unsichere Zeit, um sich zahlreiche Herrschaftsrechte anzueignen. Zur Absicherung fasste der Berner Rat diese faktisch bestehenden Rechte um 1250 als angeblich vom König 1218 verliehenen Privilegien in einem fingierten Rechtsdokument zusammen. Die Fälschung war erfolgreich. Im Jahr 1274 bestätigte der neue König Rudolf I. die Handfeste und legitimierte damit die Berner Rechte.

Legitimation durch Geschichte

Heute wissen wir: Die Anfänge der Stadt Bern beruhen auf einer Fälschung. Das ist kein Einzelfall. Oft genug haben sich Städte, Bünde und Staaten Geschichte verliehen, um Legitimation zu erhalten. Mit dem Rückbezug auf oftmals konstruierte schicksalhafte Ereignisse, bedeutende Dokumente oder heroische Personen wird die eigene Position gegen Anfeindungen von aussen verteidigt und im Innern ein kollektives Gedächtnis und eine gemeinschaftsbildende, identitätsstiftende Erinnerungskultur geschaffen.

Erinnerungskultur in the making. In der weit verbreitenden Berner Diebold-Schilling-Chronik (1478-1483) wird ein Ereignis dargestellt, das nie stattgefunden hat: Friedrich II. übergibt Bern die Handfeste. (Abbildung: Burgerbibliothek, Mss.h.h.I.1, p. 17 – Diebold Schilling, Amtliche Berner Chronik, Bd. 1)

Auch heute, am 1. August wird im ganzen Land in zahlreichen Reden gerne an die Wehrhaftigkeit gegen aussen sowie an die angeblich seit 1291 bestehende Freiheit und Souveränität erinnert. Mit dem Verweis auf Wilhelm Tell und den Rütlischwur wird zum Widerstand gegen die modernen fremden Vögte gemahnt. Doch wie kam es dazu, dass ausgerechnet diese Narrative den öffentlichen Diskurs bestimmen? Warum werden heute die Geschichten von Tell und von 1291 erzählt?

Tell erscheint im 15. Jahrhundert

Das Narrativ der eidgenössischen «Befreiungstradition» – legitimer Widerstand gegen tyrannische Vögte durch Tell, Rütlischwur und Aufstand im sogenannten Burgenbruch – entstand um 1500. Im Weissen Buch von Sarnen wurden um 1470 erstmals verschiedene Erzählungen und Lokaltraditionen zusammenhangslos zur Befreiungstradition aneinandergereiht. Der Glarner Gelehrte Aegidius Tschudi goss Anfang des 16. Jahrhunderts diese Geschichten in eine einheitliche Erzählung und datierte die Geschehnisse auf den Jahreswechsel 1307/1308. Diese Darstellung blieb bis ins 19. Jahrhundert weitgehend unverändert.

Dass diese Geschichtskonstruktion um 1500 stattfand, ist kein Zufall. Zu dieser Zeit hatten die eidgenössischen Orte durch Eroberungen und innere Herrschaftsverdichtung an Macht gewonnen und wurden erstmals als zusammengehöriges Gemeinwesen greifbar.

Die gemeinsamen Eroberungen, wie die des Aargaus 1415 oder des Thurgaus 1460, fanden meist auf Kosten Habsburgs statt. Aus deren Sicht war diese Herrschaftsausdehnung eine unrechtmässige Rebellion und ein Bruch mit der göttlichen Ständeordnung. Denn die Bauern – also die Eidgenossen – seien von Gott einzig als Untertanen vorgesehen.

In dieser Situation musste die Eidgenossenschaft ihre Existenz legitimieren. Da ein politisch verwertbares Gründungsereignis fehlte, konstruierte sie sich ihre Geschichte: Seit Tell und dem Rütlischwur bestehe eine Tradition des legitimen Widerstands zur Bewahrung angeblicher alter Freiheiten. Mit dieser Erzählung konnten Anfeindungen von aussen abgewehrt werden und es entstand ein identitätsstiftendes Selbstbild.

Der moderne Bundesstaat entdeckt 1291

Eine wesentliche Ergänzung des eidgenössischen Geschichtsbilds fand erst im 19. Jahrhundert im modernen Bundesstaat statt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbannte die Geschichtswissenschaft die Befreiungstradition, die bis anhin als historischer Fakt akzeptiert worden war, in die Welt der Sagen. Neu dienten nicht mehr Chroniken und Erzählungen, sondern Urkunden und Rechtsdokumente als historische Quellen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbannte die Geschichtswissenschaft die Befreiungstradition, die bis anhin als historischer Fakt akzeptiert worden war, in die Welt der Sagen.

Als Alternative zur Tell-Rütli-Geschichte fand die Wissenschaft eine Reihe alter Landfriedensbündnisse. Darunter war auch ein auf Anfang August 1291 datiertes Bündnis von Schwyz, Uri und der «unteren Talschaft von Unterwalden». In dieser Urkunde versprachen sich die Talschaften gegenseitige militärische Hilfe und regelten die Strafverfolgung. Es bestand keine Absicht ein Gemeinwesen namens Eidgenossenschaft zu begründen. Trotzdem wurde aus diesem beliebigen Bündnis der heute so bekannte «Bundesbrief», das angebliche Gründungsdokument der Schweiz. Wie war das möglich?

Der liberale Bundesstaat von 1848 war mit einer geschichtspolitischen Herausforderung konfrontiert. Im Sonderbundskrieg 1847 hatten die liberalen die konservativen Kantone militärisch besiegt und ihnen den Beitritt zum Bundesstaat aufgezwungen. Um die konservativen Kantone in den von ihnen ungeliebten neuen Staat zu integrieren, machte der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts rein liberale Bundesrat zusammenhaltsstiftende Geschichtspolitik.

Um die konservativen Kantone in den von ihnen ungeliebten neuen Staat zu integrieren, brauchte es Geschichtspolitik.

Das neu entdeckte Landfriedensbündnis von 1291 entpuppte sich dabei als Glücksfall. Das Dokument wurde zur Gründungsurkunde hochstilisiert und der Ursprung der modernen Schweiz in die Zentralschweiz, die konservative Hochburg des Landes, der verlegt. Mit zahlreichen Publikationen und der Durchführung der 600-Jahrfeier der Eidgenossenschaft im Schwyzer Talkessel am 1. August 1891 wurde diese gemeinschaftsbildende und zusammengehörigkeitsstiftende Geschichtserzählung erfolgreich ins Leben gesetzt. Von nun an war 1291 das Gründungsjahr der Schweiz und so wurde dieses Datum 1902 an der Fassade des neu errichteten Bundeshauses in Stein gemeisselt.

Statuengruppe «Die drei Eidgenossen» von James Vibert im Kuppelsaal des Bundeshauses von 1914. Die drei Verschwörer des Rütlis legen einen Eid auf den Bundesbrief ab. Hier vermischen sich die Befreiungstradition und die Legende des Bundesbriefes. (Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern)

In der Bevölkerung blieb die alte Erzählung von Tell und dem Rütlischwur jedoch weiterhin populär und so fand 1907 in Altdorf eine zweite 600-Jahrfeier der Eidgenossenschaft statt. Auch am 1895 errichteten Telldenkmal in Altdorf wird mit einer Inschrift an die Taten von 1307 erinnert. Über die Zeit vermengte sich das Narrativ des Bundesbriefes mit der Befreiungstradition und plötzlich wurde 1291 auf dem Rütli der Bundesbrief beschwört. Eine Konstruktion aus zwei Geschichtskonstruktionen also.

Welche Geschichten erzählen wir?

Wie die Geschichten der Berner Handfeste, der Befreiungstradition und der 1291er-Legende zeigen, werden immer wieder aus verschiedenen Gründen historische Ereignisse erfunden und Geschichtsbilder fabriziert. Sie legitimieren die eigene Herrschaft, wehren Anfeindungen von aussen ab, schaffen Gemeinschaft und stiften Identität.

Heute, am 1. August wird in vielen Reden das wehrhafte «Wir» der feindseligen Aussenwelt gegenübergestellt. Zur Legitimation dieser Haltung dienen Rückgriffe auf die Gründungsmythen. Diese vermeintlichen historischen Wahrheiten, die nichts anderes als eine in die Vergangenheit projizierte Utopie sind, diktieren vielenorts noch immer die politischen Erwartungshorizonte. Hier zeigt sich die Gestaltungskraft historischer Narrative.

Erinnerungen an 1848 hingegen werden heute wohl seltener anzutreffen sein. Wobei die Frage durchaus berechtigt ist, ob es nicht zukunftsträchtiger wäre, sich an der Zeit zu orientieren, als die Schweiz die einzige Demokratie Europas war und tausende für die liberalen Bürgerrechte kämpfenden politische Geflüchtete im Land aufnahm.

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