Von Budapest nach Bethlehem

von Anne-Careen Stoltze 8. Mai 2013

Sein Grossvater war ungarischer Jude und kam im KZ um. Szabolcs Mihalyi kam 1981 mit seinen Eltern aus Ungarn nach Bern und lebt seither im Holenackerquartier. In Journal B versucht er zu erklären, warum der Antisemitismus in seiner Heimat wieder salonfähig werden konnte.

Ungarn ist in den letzten Tagen und Wochen fast täglich in den Schlagzeilen. Die Nachrichten über den jüdischen Weltkongress in Budapest und skandierende Neonazis haben viele aufgeschreckt – auch Szabolcs Mihalyi. «Ich habe mich nicht immer für die ungarische Innenpolitik interessiert», sagt der Berner Politologe. Das mag man ihm nicht glauben, denn im Gespräch erweist sich, dass er bestens über die Politik seines Heimatlandes informiert ist. «Seit die Regierung Orbán an der Macht ist, habe ich mich intensiver damit befasst», sagt Mihalyi, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt. Er fühlt sich «zu 95 Prozent als Schweizer» und besucht zwei- bis dreimal im Jahr Familie und Freunde in Budapest. Die Regierung Orbán und ihre Politik sind dann fast immer ein Thema. Aber er hat auch Bekannte, die dem jetzigen politischen Klima schon fast ratlos, wenn nicht sogar ängstlich gegenüberstehen, gerade solche mit jüdischen Wurzeln. «Bei dem Thema sind sie sehr zurückhaltend und ich will nicht insistieren», sagt Mihalyi, der in Budapest überall nationalistischen Symbolen begegnet.

Nationalistische Fahnen im Autofenster

In vielen Schaufenstern hängt eine Karte von GrossungarnWohls noch Teile Rumäniens, Sloweniens, der Slowakei und Kroatiens zu Ungarn gehörten. Auch die Stephanskrone, das historische Wappen des alten und neuen Ungarn, wird von vielen patriotisch ins Autofenster gehängt und was Mihalyi noch viel schlimmer findet: «Auch die Symbole und Fahnen der Pfeilkreuzler werden unverhohlen zur Schau gestellt.» Der Hintergrund: Die Pfeilkreuzler waren eine nationalsozialistische Partei, die mithilfe des Hitlerregimes 1944 bis 1945 ein nationalsozialistisches Regime in Ungarn errichtete, unter dem zehntausende Menschen, vor allem Juden, ermordet oder deportiert wurden.

«Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat bis heute nie statt gefunden.»

Szabolcs Mihalyi

Der Antisemitismus hat eine lange Tradition in Ungarn und wenn man sein aktuelles Wiederaufflammen verstehen will, muss man weiter in der ungarischen Geschichte zurückgehen. «Die Ungarn haben nach dem ersten Weltkrieg ein tiefes Trauma erlitten, als sie vierzig Prozent ihres Landes verloren, obwohl ein Grossteil dieser Gebiete nie ungarischsprachig war», erklärt Mihalyi. Dem Grossungarn von damals trauerten sie noch heute nach. «Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat bis heute nie statt gefunden.» Stattdessen errichtet die nationalkonservative Regierung Orbán Mahnmäler und verklärt die alten Zeiten.

Grossvater wurde deportiert 

Bereits ab 1920, mit Erlass des ersten antijüdischen Rassengesetzes, wurden die Juden in Ungarn offen diskriminiert. In Budapest machten sie damals einen Viertel der Stadtbevölkerung aus. Das jüdische Leben war offen sichtbar, auch durch die zahlreichen Synagogen. Noch heute zählt die jüdische Gemeinde in Budapest zu den aktivsten in Europa. Auch Mihalyis Grossvater väterlicherseits war Jude. «Er änderte jedoch bald seinen Namen, konvertierte zum Katholizismus und heiratete eine ungarndeutsche Frau», erzählt er. Doch das alles half nichts: Der Grossvater wurde deportiert und starb in einem KZ in Süddeutschland. Genaueres weiss Mihalyi über sein Schicksal nicht.

«Der Antisemitismus in Ungarn ist nie weggewesen, aber heute kann man ihn offen zeigen und man schämt sich dessen nicht.»

Szabolcs Mihalyi

Bekannt ist jedoch, dass der damalige ungarische Staatschef Miklos Horthy eine sehr umstrittene Rolle eingenommen hat. Zum einen wurden unter ihm sehr viele Juden deportiert und in Gettos gesperrt, er liess 1944 aber auch einige der Züge stoppen, sodass viele Budapester Juden gerettet werden konnten. «Horthys Rolle wird verherrlicht und es gibt bis heute kein Bewusstsein für die ungarische Mitschuld», sagt Mihalyi und schliesst an: «Der Antisemitismus in Ungarn ist nie weggewesen, aber heute kann man ihn offen zeigen und man schämt sich dessen nicht.»

Für den überzeugten Sozialdemokraten ist die Regierung Orbán dafür mitverantwortlich. «Sie tolerieren antisemitische Gedanken und ihnen stehen entsprechende Autoren nahe», begründet Mihalyi. Offiziell wolle die Regierung «das Völkische, Christliche» fördern. Selbst bei den linken Parteien kämen solche Redewendungen an. Und je weiter man politisch nach rechts gehe, um so verbreiteter seien «Argumente, die man aus den 1930er Jahren kennt». Die rechtsextreme Jobbik-Partei hält Mihalyi bisher noch für eine Minderheit. Aber er ist auch besorgt: «Ich weiss nicht, wo Orbán Ungarn noch hinführen will.» Der Regierungschef habe bisher die demokratischen Einrichrichtungen geschwächt, die Medien, die Verfassungsrichter und das Präsidentenamt. Mihalyi, der sich selbst als Europäer bezeichnet, kritisiert die EU dafür, dass sie der ungarischen Regierung «viel zu spät auf die Finger gehauen hat».