Am 21. Januar 2016 hielt Armand Baeriswyl im Rahmen des Berner Zirkels für Ur- und Frühgeschichte einen Vortrag über «Bern und Bären». Unter dem Titel «Zähringer und Bären, die Gründungslegende und der aktuelle Forschungsstand zur Entstehung der Stadt Bern» veröffentlichte der Stadtarchäologe und Bauforscher im Jahrbuch der geographischen Gesellschaft Bern, Band 64/2014, seine Erkenntnisse. Für die Historie der Berner Altstadt konnte er in den letzten Jahren so einiges in ein neues Licht rücken.
Konrad Justingers Gründungslegende…
Im Auftrag des Berner Rates vom 21. Januar 1420 verfasste der Stadtschreiber Konrad Justinger die allererste Stadtchronik innerhalb der Eidgenossenschaft. Sie hatte die Geschichte der Stadt Bern bis zu Justingers damaliger Gegenwart zum Inhalt und bezog alle früheren Quellen, denen er habhaft werden konnte, mit ein. Für die Zeit der Stadtgründung gab es aber nur eine einzige relativ brauchbare Schrift aus der 1. Hälfte des 14. Jh., die «cronica de berno». Das Resultat der Nachforschungen Justingers kann man in folgenden Punkten zusammenfassen:
- Herzog Bertold von Zähringen gründete 1191 die Stadt Bern.
- Der Ort der Gründung war von einem (wildreichen) Eichenwald bedeckt.
- Damals bestand die Burg Nydegg bereits.
- Die erste Stadtphase erstreckte sich von der Burg Nydegg bis zum heutigen Zytglogge.
- Die Stadt gehörte bei ihrer Gründung zur 5km südlich von Bern gelegen Pfarrei von Köniz Dorf. Vor der Gründung der Stadt gab es hier keine Pfarrkirche, also auch kein Dorf.
- Der Name «Bern» leitet sich von einem Bären her.
- Bertold beabsichtigte mit seiner Gründung, Bern als Erbe der Zähringer einzusetzen, da seine eigenen Kinder durch Angehörige des burgundischen Adels ermordet worden waren, und sein Geschlecht damit erloschen war.
- Bern erhielt von Bertold den Auftrag, sich für diesen Kindermord u.a. mit Waffengewalt zu rächen. Um diese Macht ausüben zu können, verlieh er der Stadt die «goldene Handfeste» mit einigen Privilegien.
Diese von Justinger erstmals zusammengefasste Gründungsgeschichte wurde in der Folge überall abgeschrieben. Auch gab es bald schon illustrierende Gemälde und Zeichnungen davon, vor allem über die namensgebende Bärenjagd. Und heute kennt quasi jeder zumindest Teile dieser Geschichte, und Bertold und sein Bär sind inzwischen so bekannt wie Wilhelm Tell und sein Walterli. Doch wieviel an Realität steckt in diesen Überlieferungen wirklich?
… und was davon übrig bleibt
Niemand will und wird Justingers Forschungen unterschätzen. Sie entsprachen dem damaligen Wissenstand, haben bis heute Wirkung und erschienen auch 1946 im ersten Band von Richard Fellers umfassender Geschichte Berns (4 Bde. zw. 1946 und 1960). Armand Baeriswyl hat sich in seinem Artikel über die «Zähringer und Bären» mit Justingers Text auseinandergesetzt und dessen Aussagen im Licht der historischen wie archäologischen Forschungs-Ergebnisse der letzten Jahre betrachtet. Sein Resultat: Einige der oben genannten zehn Punkte zur Stadtgründung von Bern konnte er bestätigen, andere müssen berichtigt werden.
1. Tonscherben im Boden
Die ältesten Siedlungsspuren in der Altstadt stammen tatsächlich aus der Zeit um 1200. Was den Geologen als «Leitfossilien» bei der Datierung der erdzeitlichen Schichten dient, das sind für die Archäologen die seit Jahrtausenden erhalten gebliebenen Gefässscherben aus gebranntem Ton. Als damals täglich zahlreich verwendete aber zerbrechliche Gegenstände sind sie als Scherben im Boden zuhauf präsent, und da die Töpfer sie im Stil der jeweiligen Modetrends geformt hatten, kann man die einzelnen Keramiktypen heute gut verschiedenen Siedlungs-Gruppen zuweisen und als Indikator und Zeitzeugen für kulturelle Entwicklungen verwenden. Gäbe es also Scherben von vor 1200 im Boden der Altstadt, man hätte diese im Lauf der Zeit bei der regen Bautätigkeit sicher gefunden. Der Annahme einer Stadtgründung um 1191 durch den – historisch natürlich belegten – Herzog Bertold V. steht nach neusten Erkenntnissen also nichts im Wege.
2. Wald anstelle der Altstadt?
Im 19. Jh. entdeckte man die nicht unbedeutenden keltischen, römischen und mittelalterlichen Siedlungen rund um Bern. Diese seit Jahrhunderten grosse Bevölkerungsdichte lässt die Historiker daran zweifeln, dass im Altstadt-Aarebogen um 1200 n. Chr. noch eine grössere zusammenhängende Waldfläche mit Bären bestanden haben könnte.
3. Zollstation Nydegg
Bisher suchte man immer wieder vergebens nach Bewohnern des Altstadt-Aarebogens vor 1200, nach einer keltischen Siedlung, einer römischen Strasse mit Brückenkopf über die Aare etwa. Ebenso wenig fand man ein frühmittelalterliches Dorf oder eine hochmittelalterliche Burgsiedlung, obschon Justinger behauptet hatte, die Burg Nydegg habe schon vor der Stadtgründung bestanden. Man fand all diese vermuteten Spuren tatsächlich, allerdings im anderen Aarebogen auf der Engehalbinsel (keltisches Oppidum und römischer Vicus). Und im 11. Jahrhundert wird in Bremgarten eine Burg mit zugehöriger Pfarrkirche ausgemacht. Das Argument, dass die moderne Bautätigkeit in der unteren Altstadt von Bern im Lauf der Zeit alle früheren ev. vorhandenen Überreste hölzerner oder steinerner Bauten zerstört haben könnte, hält archäologisch gesehen nicht stand. Als untrügliches Siedlungszeichen müssten inzwischen zumindest einige Kleinfunde wie Keramikscherben zum Vorschein gekommen sein.
Die letzten Grabungsergebnisse im Nydeggareal stammen aus den 50er und 60er Jahren, wie Baeriswyl erläutert: «Die Auswertungen wurden allerdings erst in den späten 80er Jahren von Paul Hofer und Hansjakob Meyer vorgenommen und zum Stadtjubiläum 1991 in Buchform publiziert». Sie brachten Kleinfunde zutage, mit deren Hilfe die Entstehung der Burg in die Zeit um 1200 datiert werden kann. Als Stadtburg war sie also Teil der Gründungsinfrastruktur. Ihre Hauptaufgabe war jedoch nicht die Herrschaftsresidenz. Sie war Zollstation und Kontrollposten des damals neu entstandenen Aareübergangs.
4. Altstadt bis zum Zytglogge
Die Kontroverse, ob die früheste Bauphase nur bis zur Kreuzgasse oder bereits weiter hinauf gereicht habe, hat im Laufe der Erforschung laut Baeriswyl «eine ganze Generation von Historikern und Architekturgeschichtlern entzweit». Inzwischen konnten Stadtmauern aus dieser Zeit stellenweise archäologisch erfasst werden. Sie zeigen, dass sich schon die erste Besiedlung der Altstadt tatsächlich bis zum Zytglogge erstreckte.
5. Filiale von Köniz?
Bern wurde erst 1276 eine eigenständige Pfarrgemeinde. Unter dem heutigen ab 1421 errichteten Münster fand man bisher Reste von nur zwei möglichen Vorgängerkirchen. Die ältere entstand wahrscheinlich um 1200, als eine von Köniz abhängige «Filiale». Allerdings könnte und müsste dies erst durch moderne archäologische Untersuchungen bestätigt werden. Gab es hier tatsächlich kurz vor der Stadtgründung noch keine Kirche, wäre dies ein weiteres Argument dafür, dass auch keine Vorgängersiedlung (vgl. Punkt 3) bestanden hat.
6. Namenshypothesen
Der Name Bern taucht erstmals in einer Urkunde von 1208 auf. Was den Ursprung des Namens angeht, so bleibt weiterhin auch – nebst der Bärenjagd-Hypothese – die andere Annahme Spekulation, dass Bern eine germanisierte Form von Verona sei, da die Zähringer im 11. Jahrhundert recht enge Beziehungen zu Verona hatten.
Der Fund eines keltisch-römischen Votivtäfelchens aus Zink im Thormebodenwald brachte 1984 eine dritte Mutmassung in Gang. Auf ihm steht Brenodor, lat. Brenodurum, als Name der damaligen Engehalbinsel. Möglicherweise eine Vorform von Bremgarten und auch Bern, die sich – mit der Zeit leicht abgewandelt – bis ins Mittelalter so ähnlich erhalten haben könnte. Herzog Bertold hat sich vielleicht bei der Namensgebung seiner Gründung auf diese Bezeichnung bezogen. Jedenfalls wird auch damit die Bären-Variante immer unwahrscheinlicher.
Zum ersten Mal erscheint der Berner Bär auf einem Stadtsiegelabdruck von 1224. Wie und wann genau er zum Wappentier geworden ist, bleibt im Dunkel der Geschichte, er könnte aber gut von Anbeginn der Stadtgründung an darauf gewesen sein. Aus welchem Grund auch immer…
7. Zähringerstadt
Bertold V. hatte keine Kinder. Mit seinem Tod am 18. Februar 1218 löste sich sein heterogenes Herrschaftsgebilde namens «Herzogtum Zähringen» auf und wurde an die Stauferkönige und an die Grafen von Kyburg und Urach/Freiburg verteilt. Zwischen 1218 und 1255 war Bern staufisch. Diese Nachfolger «vergassen» ihre Vorgänger – und ehemaligen Konkurrenten – gern und schnell. So verschwanden die Zähringer im Nebel der Geschichte, bis man sich im 14. Jh. erneut an sie erinnerte und eine eigentliche Zähringertradition begann, die als «Fundament der städtischen Identität» ihre eigenen Legenden entwickelte und seit dem 15. Jh. bis heute auch institutionell gepflegt wird.
8. Berner Mythenbildung
Der vermeintliche Auftrag Bertolds an die Berner, seine Erben und Rächer zu sein, entstammt gänzlich der Feder Justingers und ist ein exzellentes Beispiel für Mythenbildung. Als er seine Chronik verfasste, war Bern gerade in einer Expansionsphase und brauchte dafür eine Begründung und eine grundsolide Identität, auf die es seine überregionalen Machtgelüste stützen konnte. Baeriswyl schreibt: «Dieses Selbstbild prägte die Führungsschicht Berns, deren Feldzüge die Stadt im 16. Jh. zum flächenmässig grössten Stadtstaat nördlich der Alpen werden liess.»
Die goldene Handfeste von 1218 ist von Kaiser Friedrich II. besiegelt. Sie umfasst 54 Artikel und befindet sich im Staatsarchiv. Inzwischen nimmt man an, dass sie eine Fälschung durch Berner Notable ist, die damals häufig von Mönchen angefertigt wurden, um de facto-Privilegien festzuhalten. Allerdings wurde sie 1274 durch Rudolf I. bestätigt und somit – als erste Verfassung der Stadt – gültig. Mit ihr war Bern eine freie Reichsstadt.
Geschichtsschreibung ist Interpretation
Eine ehrliche wissenschaftliche Geschichtsschreibung weiss: Letztlich sind mündliche und schriftliche Quellen immer Interpretationen der Zeit, in welcher sie geschrieben oder bearbeitet werden. Alle Erkenntnisse sind immer nur «der heutige Stand des Irrtums», abhängig von den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Messinstrumenten und den momentanen Weltanschauungen und Zielsetzungen der Forscher. Historiker bemühen sich um eine Annäherung an die reellen Begebenheiten und stellen diese in einen möglichst wahrscheinlichen Zusammenhang, mit dem Ziel, die Vergangenheit als unsere Wurzeln und Identität sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Doch trotz all ihrer Bemühungen um Unvoreingenommenheit, Nüchternheit und Distanz werden auch sie zukünftige Legendenbildungen nicht verhindern können. Die Wunschbilder, Ängste und die Phantasie des Menschen vernebeln und beflügeln immer wieder Wahrheit und Realität und lassen weiterhin Mythen und Sagen entstehen, die aber irgendwo zwischen den Zeilen immer auch ein Quäntchen Wahrheit enthalten. Freuen wir uns darüber! Die Arbeit wird den Historikern nie ausgehen.