Vom Randbereich in die Innenstadt

von David Fürst 27. Januar 2022

Lange stand das Gemeinschaftszentrum Medina auf der Schützenmatte. Aktuell befindet sich der Container des Vereins prominent auf dem Kornhausplatz. Der temporäre Umzug ist Teil einer Ausstellung des Kornhausforums.

18. Januar 16:30 – Abbau auf der Schützenmatte

Der Medina-Container wird abgebaut. Kochtöpfe zusammengeräumt und in einen Kombi gehievt, Schrauben gelöst und das Holzkonstrukt, das den Aussenraum des Container überdacht, abgebaut. Aufbruchsstimmung liegt in der Luft. Das Gemeinschaftszentrum Medina, dass normalerweise in Form eines Containers auf der Schützenmatte steht, leistet niederschwellige Sozialarbeit und hat das Ziel, sozial benachteiligte Gruppen zu inkludieren.

Morgen wird das Gemeinschaftszentrum auf den Kornhausplatz gezügelt und dort zehn Tage bleiben. Den Auftakt bildet der Umzug von der Schützenmatte, quer durch die Stadt, auf den Kornhausplatz. All das findet im Rahmen der grossen Ausstellung «Shared Spaces in Change» mit dem Kornhausforum statt. Die Ausstellung bietet 35 Projekten aus unterschiedlichen Disziplinen eine Bühne. Das Projekt nennt sich «Exchanging Spaces» und soll die Relevanz von geteilten Räumen, die für alle Menschen zugänglich sind, aufzeigen. Das Konzept wurde von Livio Martina, Laura Erismann und Pit Ackermann geschrieben.

Umzug auf den Kornhausplatz (Foto: David Fürst)

19. Januar 14:20 – Umzug

Ca. 30 Menschen laufen mit Musik und vollgepackten Handwagen durch die Zeughausgasse. Angeführt wird der Umzug von einem Polizisten. Auf dem Platz angekommen, klatscht die Menge und Livio Martina bedankt sich bei den Sympathisant*innen. Schnell wird die Holzkonstruktion aufgebaut, die den Container umgibt. Passant*innen bleiben stehen und beobachten die eifrigen Menschen, die auf Leitern klettern und Holzelemente verschrauben. Der Container wirkt wie ein Fremdkörper, auf dem sonst so glatten Kornhausplatz.

Annina Zimmermann, Fachspezialistin bei der Stadt Bern, begleitete den Umzug. Im Auftrag der Kommission für Kunst im öffentlichen Raum (KiöR) war sie dafür verantwortlich, dass der temporäre Aufenthalt des Containers von Medina auf dem Kornhausplatz möglich war. Neben ihr steht Nicolas Kerksieck, Leiter des Kornhausforums, Initiator und Kurator des Projektes «Shared Spaces in Change». «Es ist ein Experiment, dass der Container von Medina nun zehn Tage hier auf dem Kornhausplatz steht. Noch nie haben wir ein so grosses Projekt auf diesem Platz gehabt», sagt Kerksieck stolz.

21. Januar 16:30 – Interview mit Nicolas Kerksieck

Vom Fenster des Kornhausforums schauen wir hinunter zum Container, der an diesem Nachmittag noch geschlossen ist. Nicolas Kerksieck, der 45-jährige Nachfolger von Bernhard Giger, leitet das Kornhausforum seit 2021 und hat sich mit der Ausstellung «Shared Spaces in Change» erfolgreich auf die Leitung des Forums beworben. Wir laufen durch die Ausstellung, umkreisen das Gerüst mit den Fotos von Medina, das sich wie ein Turm über die Ausstellung erhebt. Während des Interviews verweist Kerksieck immer wieder auf Details der Ausstellung, wie das Korn der analogen Fotos und wirkt begeistert über die Verbindung zwischen der Ausstellung im Haus und dem Container auf der Strasse.

Nicolas Kerksieck, wie hat sich das Projekt «Exchanging Spaces» von Medina durchgesetzt? Es haben sich immerhin 200 Künstler*innen beworben.

Das Projekt «Exchanging Spaces» liefert Antworten auf die Fragestellung, wie sich Öffentlichkeit verändern kann oder soll. Es zeigt eine andere Sichtweise auf Öffentlichkeit als andere Arbeiten, die eher den sichtbaren städtischen Bereich umdenken wollen. Uns war es wichtig, dass wir Ideen in die Ausstellung einbringen, die den öffentlichen Raum von Menschen zeigt, für die dieser Raum nicht nur ein Surplus ist, sondern für die der öffentliche Raum Teil ihres Alltags ist. Natürlich hat uns auch die künstlerische Umsetzung überzeugt.

Auf welche Resonanz stösst dieser Foto-Turm bei den Besuchenden? Gab es auch Kritik, weil das Kornhausforum so einem politischen Projekt Raum bietet?

Es ist eine Arbeit, die sehr viel Resonanz erzeugt. Viele Besuchende kennen die Schützenmatte, aber nicht das Projekt Medina, weil sie den Platz eher meiden. Darum finde ich es so wichtig, dass jetzt der Container da unten auf diesem zentralen Platz der Stadt Bern steht. Auch Politiker*innen aus dem Stadtrat und Grossen Rat waren hier und haben sich mit viel Interesse die Ausstellung angesehen. Für uns ist es wichtig, auch gesellschaftspolitische Projekte ausstellen zu können. Deshalb haben wir dem Projekt von Medina auch eine sehr zentrale Rolle in der Ausstellung gegeben. Ich empfinde es als wichtig, Projekte, die gesellschaftliche Randbereiche zeigen, viel Platz einzuräumen. Der Turm mit den Fotos steht gross in der Mitte der Ausstellung.

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Wie empfandest du die Zusammenarbeit mit Medina?

Wir waren sehr beeindruckt, besonders von diesem Umzug von der Schützenmatte auf den Kornhausplatz. Sie arbeiten sehr präzise und klar. Dies erachte ich als sehr wichtig in der Projektkooperation mit marginalisierten Menschen. Die Gefahr ist immer da, dass sie als Sündenböcke herhalten müssen, wenn etwas schiefgehen würde. Daher ist ihre Professionalität umso wichtiger.

Gibt es Ideen, wie mit den Erfahrungen umgegangen werden soll, die während der Zeit, in welcher der Container auf dem Kornhausplatz steht, gesammelt werden?

Ich finde dies eine dringende Frage. Dieser Raum, der sich nun zwischen dem Container und dem altehrwürdigen Kornhaus auftut, zeigt genau auf, dass wir den öffentlichen Raum temporär ummünzen und so auch umdeuten können. Diesen Erkenntnisgewinn wollen wir als Institution mitnehmen und in Zukunft mehr mit dem öffentlichen Raum in Interaktion treten.

Wir sind ein Haus, das keinen Eintritt verlangt, aber trotz dessen befinden wir uns in einer (Kultur-)Blase. Durch die Zusammenarbeit mit Medina, konnten wir mehr Menschen erreichen und wir profitieren sicher beide davon. Wir können den fotografischen Arbeiten ein Podest geben und erhalten durch den Container auch einen direkten Bezug nach draussen zur Strasse.

Der Container von Medina an seinem ursprünglichen Platz auf der Schützenmatte. (Foto: Livio Martina)

 

Der Turm mit den Fotos steht inmitten der Ausstellung im Kornhausforum. (Foto: David Fürst)

 

22. Januar 14:00 Interview mit Livio Martina

Die Innenstadt ist voll – wie jeden Samstag – und überdurchschnittlich viel Polizei fährt am Container vorbei. In sicherer Entfernung laufen Coronademonstrant*innen Richtung Zytglogge. Angeführt von Schwarzvermummten, die laut «liberté» rufen. Zwei Menschen vom Medina-Kollektiv öffnen den Container, der etwas klemmt. Heute haben sie Künstler*innen eingeladen, um die Fassade neu zu gestalten. Es kommen immer wieder Menschen vorbei, die kurz Hallo sagen oder in irgendeiner Form am Projekt beteiligt sind. Vor dem Container werden Tische aufgestellt und ein Künstler legt Plastikfolie aus, um den Boden vor der Farbe zu schützen. Da es beim Container zu hektisch ist – zeitgleich fährt auch die Gegendemo mit den Velos vorbei und Polizist*innen mit Schutzausrüstung steigen aus den weissen Einsatzautos, um zu intervenieren – überqueren wir die Strasse und setzen uns in die Gaststube des Restaurants Ringgenberg, das an diesem Samstagnachmittag überraschend leer ist.

Wie kam es dazu, dass ihr euch mit dem Projekt «Exchanging Spaces» für die Ausstellung «Shared Spaces in Change» im Kornhausforum beworben habt?

Wir haben uns als Gruppe unabhängig von Medina beworben, wollten aber Medina in diesem Rahmen vorstellen, weil es genau das ist, was wir schon machen: Öffentlicher Raum nützen und für Menschen zugänglich machen. In Städten tauchen marginalisierte Menschen sonst fast gar nicht im Stadtbild auf, sondern, werden auf gewisse Plätze verdrängt. Die Ausschreibung zielte genau auf diese Frage ab, die auch für uns relevant ist: Wie können wir den öffentlichen Raum nutzen und wie möchten wir zusammenleben? Dabei leisten wir für die Stadt einen wichtigen Beitrag mit unserem Projekt. Für die Ausschreibungen waren Projekte aus den Disziplinen Fotografie, Architektur oder Performance gesucht, wir haben uns entschieden, alle drei Bereiche zu integrieren. In der Fotografie haben wir Arbeiten, die zeigen, wie der Platz Schützenmatte belebt wird. Der Umzug von der Schützenmatte auf den Kornhausplatz war die Performance und den Bezug zur Architektur konnten wir mit dem Container auf dem Platz herstellen.

In eurer Arbeit verbindet ihr Aktivismus und Kunst, wie siehst du diese Verbindung?

Beides schliesst sich nicht gegenseitig aus. Diese Verbindung gibt es wahrscheinlich schon seit den ersten Höhlenmalereien. Kunst erreicht den Menschen auf eine andere, vielleicht subtilere Art als „roher“ Aktivismus und umgekehrt. Manchmal ist das eine angebracht, manchmal das andere und manchmal braucht es auch beides.

Wie sind die Fotos entstanden?

Zum einen sind es Bilder von mir, welche die Entstehung von Medina dokumentieren, zum anderen haben wir verschiedenen Menschen, welche sich rund um den Medina-Container auf der Schützenmatte bewegen, Einwegkameras verteilt. Es gab keine Auflagen, sie durften frei fotografieren. Da sich die Menschen, die wir von Medina kennen, oft auf der Schützenmatte aufhalten, sind viele Bilder auch an diesem Ort entstanden. Dass die Fotos jetzt im Kornhausforum ausgestellt werden, finde ich notwendig und zeigt auch die Wertschätzung gegenüber den Fotograf*innen.

Wie sind die Reaktionen der Passant*innen, die euren Container wahrnehmen?

Die Blicke der Menschen sind spannend. Es gibt viel Neugierde und für einige ist der Anblick sicher auch unbequem. Der Container, der vor dem Kornhaus auf dem Platz steht, hat einen enormen Effekt. Die Schützenmatte ist ein grosser blinder Fleck der Stadt, der normalerweise nicht sichtbar ist. Durch das Projekt «Exchanging Spaces» sind Passant*innen nun damit konfrontiert. Die Menschen, die sich sonst auf der Schützenmatte aufhalten, kommen jetzt in die Innenstadt und beleben den Platz. Viele Passant*innen kommen auf uns zu und fragen, was wir machen und setzen sich zu uns an einen Tisch. 

Würdest du dir wünschen, dass ihr länger dort bleiben dürftet?

Menschen, die sich bei Medina beteiligen, haben sich ganz unterschiedlich dazu geäussert. Einige halten es hier für viel angenehmer und würden gerne da bleiben. Andere finden, dass es ein Angebot auf der Schützenmatte braucht, weil es immer noch ein Ort ist, den marginalisierte Menschen aufsuchen, weil sie sonst überall verdrängt werden. Solange die Situation noch so ist, können wir dort nicht weg.

Was erhofft ihr mit «Exchanging Spaces» zu bewirken?

Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit, aber nicht primär für uns, sondern für die Thematik der Ausgrenzung von Menschen aus dem öffentlichen Raum. Wir möchten aufzeigen, dass Plätze nicht nur kommerziell genutzt werden, sondern dass Plätze von vielen Menschen genutzt werden. Durch die Coronapandemie ist ein grösseres Interesse für öffentliche Räume entstanden, da die Menschen weniger verreisen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, wer eigentlich öffentliche Räume immer schon genutzt hat. Es sind Menschen, die marginalisiert sind. Es sollte möglich sein, dass verschiedene Gruppen koexistieren können.