Die Geschichte spielt kurz vor Weihnachten. Einer dieser Tage ist ein ganz besonderer. Das Datum ändert jedes Jahr und nur die Weihnachtsguetzli kennen den genauen Termin. An diesem ganz speziellen Tag unterhalten sich nämlich alle Weihnachtsguetzli auf der ganzen Welt miteinander. In Madrid sind das die Galletas navideñas, in London die Christmas cookies, in Thailand die คุกกี้คริสต์มาส.
Der Kolumnist kann hier nicht über alles berichten, was auf der Welt in den Guetzlibüchsen gschnäddered wird. Er beschränkt sich auf das, was bei der Familie Kellenberger zu hören ist. Kellenbergers, Vater, Mutter, die drei Kinder Mira, Mila und Max, haben schon fleissig zugegriffen. Jetzt warten bloss noch je ein Chräbeli, ein Brunsli, ein Zimtstern, eine Pfeffernuss und ein lädiertes Mailänderli auf ihr letztes Stündlein.
«Hört genau zu, ihr Chrüsimüsi-Leckerli», sagt als erstes der Zimtstern. «Zimt kommt vor allem aus China, aber nicht als China-Päckli oder sonstwas zum Ghüderen. Nein, Zimt ist ein edles Gewürz. Es wird auch für Medikamente verwendet. Und, psst, Zimt gilt als Aphro… Aphrodi… Aphrodisia…»
Da fällt dem Zimtstern das Chräbeli ins gestotterte Wort. «Hohler Dummkopf», lästert das Anis-Guetzli über das Zimtstückli. Dummkopf? Eine solche Beleidigung ist typisch fürs üble Verhalten der Chräbeli. Es muss hier gesagt sein: In Bäckerkreisen ist bekannt, dass die meisten Chräbeli eingebildet sind, sehr eingebildet. Das gilt leider auch für unser Exemplar. «Mein Anis kommt aus Griechenland, aus Ἑλλάς», verkündete das hochnäsige Ding. Um seine Bildung zu beweisen, fährt es auf Altgriechisch fort: «Ἐγὼ μόνον ὑπὸ τῶνἈρχαίων Ἑλληνικῶν καθηγητῶν ἀναλίσκομαι.» *
«Du eingebildeter Daigaff», ereifert sich jetzt das Brunsli in urigem Baseldytsch. «Bei uns am Rheinknie wissen alle, dass wir hochwohlgeborenen Brunsli ursprünglich aus Basel kommen. Ja, es hat noch Schoggi und Mandeln, Rohrzucker, und Eiweiss drin. Aber am wichtigsten ist eben der gesamte Daig.» Und dann setzt das aufgeblasene Stückli noch einen drauf: «Jo, mir Brunsli hän halt Dampf uf dr Drummle.»
In Bäckerkreisen ist bekannt, dass die meisten Chräbeli sehr eingebildet sind.
«Kennt ihr überhaupt das Land, wo der Pfeffer wächst?» mischt sich jetzt die Pfeffernuss ein. «Südindien», ergänzt sie streberhaft. «Betty Bossi empfiehlt übrigens den Teig mit eingeölten Händen zu Kugeln zu formen. Das ist feinste Massage, von der ihr ungschpürigen Guetzli-Pflöcke nur träumen könnt.»
Unterdessen ist es 24. Dezember geworden. Bei Kellenbergers ist es üblich, vor dem Heiligabend die Guetzlibüchse auszuräumen. Viel ist ja nicht mehr drin, nur noch fünf Guetzli. Nach einem gar nicht weihnächtlichen Geschubse kann sich Mira als erste durchsetzen. «Ich nehm die Pfeffernuss», verkündet sie. Der Vater holt als Zweiter das Brunsli. Mila greift nach dem Chräbeli, die Mutter nach dem Zimtstern.
Jesses, nei, wen sehen wir da noch? Das Mailänderli ganz allein in der Büchse. Einsam und traurig liegt es da. Gelitten hat es schon vorher. «Hey, du Mailänderi mit dem abgebrochenen Zacken», verspotteten Brunsli & Co. das Unglücksding.
Und, ebenfalls ganz allein ist Max. Der Autor muss einschieben, dass es ihm schwerfällt, den Retter oder die Retterin des Mailänderlis zu bestimmen. Die Mutter? Da schiebt er sie in die Care-Ecke. Der Vater? Da ahnen wir den Patriarchen. Die beiden Mädchen Mira und Mila? Das zwängt er sie in überlieferte Geschlechterrollen. Bleibt Max.
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Max also greift nach dem übriggebliebenen Mailänderli, bemitleidet es wegen des abgefallenen Zackens und sagt: «Du armes Ding, du hast es schwer. Aber hier bei uns bekommst du den Gnadenteig und darfst so lange bei uns bleiben, wie du willst.»
So kommt es, dass der aufgeblasene Zimtstern, das stolze Brunsli, die eingebildete Pfeffernuss und das hochnäsige Chräbeli im menschlichen Stoffwechsel enden. Nur das Mailänderli, dem ein Zacken fehlt, wird die nächsten Weihnachten erleben.
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* An die Altgriechisch-Kennerinnen und -Kenner: Was hat das bornierte Akademiker-Chräbeli auf Altgriechisch gesagt? Der Kolumnist hat keine Ahnung.
Unser Kolumnist Peter Steiger erzählt in seiner letzten Kolumne des Jahres eine Weihnachtsgeschichte (Foto: David Fürst).
