Vom Fall «Axt gegen Kopf»

von Jessica Allemann 19. April 2013

Mit dem virtuellen Skalpell gescheibelt: Wie das Hirn einer Aare-Leiche vor dem Zerfliessen gelesen werden kann, ob das Einschussloch oder das Austrittsloch eines Projektils grösser ist, das lernten Krimiautorinnen und Krimiautoren gestern an der Uni Bern.

«Es ist mir ein Dorn im Auge, dass man unser Fach als Unterhaltungsmedium missbraucht», eröffnet Christian Jackowski, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern, mutig die Vorlesung für Kriminalautorinnen und -autoren. Ab 20 Uhr schaue er nicht mehr fern, «weil dann die Schicksale, die wir täglich sehen, an Sensationshungrige verfüttert werden». Was man dann überhaupt hier mache, lautet sogleich der Einwand einer Autorin in den Bankreihen des Vorlesungssaals. Die Antwort kommt sofort und leitet in die folgenden drei Stunden ein: «Ich möchte Sie dazu anregen, nicht nur den Spannungsbogen einer Geschichte im Auge zu behalten, sondern dabei möglichst nahe an der Realität zu bleiben», so Jackowski. «Die ist nämlich oft sogar spannender als das, was in Ihren Büchern steht.»

«Die Realität ist oft spannender als das, was in Ihren Büchern steht.»

Christian Jackowski, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern

Im Vorlesungssaal haben sich rund 30 Autorinnen und Autoren, Besucherinnen und Besucher des Krimifestivas Criminale, versammelt. Mit gezückten Notizblöcken und angesetzten Kugelschreibern warten sie gespannt auf den Vortrag des Rechtsmediziners Jackowski und des Forensikers und Ballistik-Experten Beat Kneubühl über klassische Rechtsmedizin, postmortale Bildgebung und Ballistik. «Hoffentlich sehe ich keine Leichen», sagt eine Krimiautorin, bereits auf Vorrat gequält, als der Vortrag beginnt.

Engagiert bis enthusiastisch führt Jackowski die Gruppe in die postmortale Bildgebung ein. Anhand von Fallbeispielen erklärt er, wie bei Leichen aussergewöhnlicher oder unklarer Todesfälle mittels Einsatz von Computertomographie und Magnetresonanztomographie Hinweise auf den Tathergang und die Todesursache gefunden und sichtbar gemacht werden können, «ohne viel Blut sehen zu müssen».

In Bern wird jedes potenzielle Mordopfer gescannt

Das kantonale Gesundheitsgesetz verlangt, dass jeder «aussergewöhnliche» (also gewaltsam oder möglicherweise gewaltsam herbeigeführte) Todesfall den Strafverfolgungsbehörden gemeldet und untersucht wird. Man geht davon aus, dass acht bis zehn Prozent aller Todesfälle «aussergewöhnlich» sind. Im Kanton Bern sind dies 800 bis 1000 Fälle pro Jahr. Laut Jackowski werden im Kanton Bern die Leichen von Personen, die Opfer einer Straftat geworden sein könnten, einer Computertomographie unterzogen. Durch den Einsatz dieser bildgebenden Verfahren wird ein dreidimensionaler Datensatz der verstorbenen Person erstellt. Computerprogramme erlauben es dann, das virtuelle Abbild der Leiche auf dem Computerbildschirm zu untersuchen, bestimmte Teile des Körpers millimetergenau abzusuchen, geborstene Knochen ein- oder auszublenden, Gaseinschlüsse oder Blutungen zu lokalisieren. Das alles, ohne dabei das «Beweisobjekt Leiche» zu manipulieren und andere Tathinweise zu zerstören.

Daten sichern, bevor sie für immer verloren sind

Weitere Vorteile der virtuellen Analyse von Körpern: Mehrere Expertisen können eingeholt werden, die Verletzungen können vor Gericht visualisiert, die erhobenen Daten der Forschung zugeführt werden. Und es können Untersuchungsgrundlagen gesichert werden, welche früher durch arge Verunstaltung der Leiche oder deren Zerfall für immer verloren gewesen wären.

«Mittels CT und MR können wir Dinge sehen, die wir noch nie gesehen haben.»

Christian Jackowski, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern

So könne etwa das Gehirn einer Leiche untersucht werden, die über zwei Jahre in der Aare gelegen hat und bei einer normalen Obduktion nicht zu retten gewesen wäre, erklärt Jackowski und umrahmt mit dem Laserpointer das im Schädel eingeschlossene Aarewasser auf der MRT-Aufnahme. Oder das Scanning ermöglicht die Identifizierung einer Brandleiche über die Zahnstellung, an die man mechanisch kaum herankommen kann. «CT und MR sind Meilensteine für die Forschung, weil wir jetzt Dinge sehen, die wir noch nie gesehen haben.» Sei es, weil sie durch eine Obduktion zerstört würden oder weil sie schlicht zu klein sind, um bei einer normalen Obduktion entdeckt zu werden. Wie kleinste Knochensplitter in der Lunge eines Opfers, anhand derer festgestellt werden konnte, dass das Opfer zur Tatzeit des Falls «Axt auf Kopf» noch am Leben gewesen sein musste: Das durch den Aufprall abgesplitterte Knochenpartikel wurde von der Person nachträglich noch eingeatmet.

«Fantasie gehört dazu»

Am Morgen noch beim Schiesstraining, am Nachmittag im Vorlesesaal: Die Krimiautorin Gina Greifenstein geniesst es, so viel wie möglich real mitzuerleben und auszuprobieren. «Man schreibt ja darüber, kennt aber vieles auch nur aus dem Fernsehen.» Es sei ihr wichtig, «in alle Ecken mal reinschnüffeln. Sonst behält man ein verklärtes Bild, und dann schreibt man Unfug». Jackowskis Aufforderung an die Autorinnen und Autoren, bei ihren Geschichten möglichst nahe an der Realität zu bleiben, kann sie deshalb sehr gut nachvollziehen. Wie nahe das sein soll, sei aber letztlich jedem selbst überlassen. «Wir dürfen ja dann dazu erfinden, Fantasie gehört halt dazu.» 

Die wirklich spannenden Fälle sind die unscheinbaren

In diesem kleineren Vorlesesaal der Uni Bern trifft heute also Fantasie auf Fakten: Während die Krimiautorinnen und Krimiautoren an besonders spektakulären Todesfällen mit viel Blut und schwerem Geschütz interessiert sind, reizen den Wissenschaftler die vordergründig unscheinbaren Fälle. «Wenn einer in drei Schüssen niedergestreckt wurde, ist das vielleicht dramatisch, aber in kurzer Zeit geklärt», sagt Jackowski. «Die wirklich spannenden Fälle sind die, bei denen nicht gleich alles offensichtlich ist.» Also jene Fälle, in denen nicht der Schuss, der Stich oder der Schlag das Tötungsdelikt deklariert. «Da kann man Wissenschaft betreiben und die Kunst der Rechtsmedizin zeigen.»

«Die postmortale Bildgebung verstärkt das Auge, ersetzt aber den Geruchssinn und die Erfahrung des Obduzent nicht.»

Christian Jackowski, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern

Jackowski ist überzeugt, dass eine Vielzahl von Delikten erst gar nicht als solche erkannt werden. Kommt der Verdacht auf Gewalteinwirkung doch auf, sind es letztlich die Rechtsmediziner, die nach belastenden Spuren fahnden. Mit den bildgebenden Methoden haben sie Instrumente zur Hand, die diese Suche erleichtern, die aber die normale Obduktion nicht ersetzen. Bislang wird nachträglich immer noch obduziert, um die virtuell nachgewiesenen Verletzungen nachzuweisen. «Die postmortale Bildgebung verstärkt zwar das Auge, sie ersetzt aber nicht den Geruchssinn und die Erfahrung des Obduzenten.» Gerade Vergiftungen hinterlassen häufig keine optischen Eindrücke, die Giftgase können nur über die Nase wahrgenommen werden. «Umso mehr ist es mir ein Anliegen, Ihnen meine Begeisterung für die neuen Methoden zu vermitteln, aber auch einen kritischen Umgang damit nahezulegen.»