Im Kosovo ist Silvester das grösste Fest des Jahres. Wir lebten wie die meisten Albaner*innen in armen Verhältnissen und ohne Sicherheit. Doch an diesem einen Abend vergassen wir die Sorgen und feierten friedlich mit der Familie. Unser Vater brachte Süssigkeiten und Getränke aus der Stadt mit. Es war der einzige Tag, an dem mein Vater sogar Coca-Cola kaufte. Die leeren Flaschen bewahrten wir dann lange als Erinnerung auf.
Aus lauter Vorfreude kam uns der Tag unendlich lang vor. Wir konnten kaum erwarten, bis es dunkel war und meine Mutter und die älteren Schwestern die «Sofra», den traditionellen runden Tisch, mit leckeren Gerichten aufdeckten. Für diesen Abend bereitete meine Mutter liebevoll festliches Essen vor. Nach dem Abendessen genossen wir vor dem Fernseher die Süssigkeiten und Getränke und schauten uns das Silvesterprogramm an. Auch wir Kinder durften bis Mitternacht auf bleiben und mitfeiern. Das war eine Ausnahme. Obwohl wir mit der Müdigkeit zu kämpften hatten, genossen wir «Vitin e Ri» (Silvester) mit unseren Eltern in vollen Zügen.
Ziemlich bald gehörte das Zusammenfeiern leider der Vergangenheit an. Ich erinnere mich an den letzten Jahreswechsel 1988/89 mit meiner Familie zu Hause, als ob es gestern gewesen wäre. Wir versammelten uns im Fernsehzimmer. Mein zwanzigjähriger Bruder fehlte. Dass er wegen seiner politischen Aktivitäten in einem serbischen Gefängnis sass, war für uns fast unerträglich. Die Sorge um ihn und seine Freunde war gross. Wie viele tausend andere junge Albaner litt er in einer kalten Zelle, nur weil er für die Freiheit unseres Landes gekämpft hatte.
Für uns war es schmerzhaft, als unser Vater, die blutigen Kleider meines gefolterten Bruders, zum Waschen nach Hause brachte. Doch an diesen Abend wagte niemand von uns, darüber zu sprechen. Wir wollten vor allem unsere Mutter schonen, weil sie oft traurig war. Sie war mit Herzblut Mutter und eine starke Frau, aber an diesem Abend merkte ich, dass ihr die Tränen ab und zu herunterliefen. Sie wischte sie diskret mit dem Handrücken ab, damit wir es nicht merkten. Es war eine bedrückte Stimmung!
Im Januar 1998 wurde ich zum zweiten Mal selber Mutter. Es war eine schwierige Zeit. Ich freute mich auf die Geburt meiner Tochter und litt gleichzeitig mit all den Tausenden Müttern, die ihre Kinder auf der Flucht und unter der Angst zur Welt brachten oder um ihre Söhne im Krieg bangten. Aus lauter Sorge und Mitleid konnte ich das Muttersein nicht geniessen.
Das Schicksal vieler alleinerziehender Mütter in Europa und auf der ganzen Welt stimmt mich auch heute nachdenklich. Viele von ihnen sorgen sich um ihre Kinder, sind gleichzeitig berufstätig und allein zuständig für das Wohl ihrer Familien. Sie befinden sich in einer ähnlichen Lage wie früher meine Mutter. Sie hatte zwar einen Mann im Hause, die Erziehung der Kinder aber war allein ihre Sache. «Thuhej se, rritja e fëmijëve nuk është punë burrash!». Kinderaufziehen ist keine Männersache, hiess es.
Über 1600 Albaner, die im Kosovokrieg verschwunden sind, sind nie zurückgekehrt. Wie schwer müssen die Festtage für ihre Familien sein? Und wie geht es den ukrainischen Müttern, deren Söhne und Töchter an der Front kämpfen? Und all den Familien, deren Kindern wegen Drogen und Alkoholproblemen auf kalten Bänken, unter Brücken oder in verlassenen Gebäuden übernachten?
Millionen von Flüchtlingen feiern die Festtage weit weg von ihren Liebsten. Die meisten von Ihnen haben eine Mutter, die irgendwo sehnsüchtig auf sie wartet. Ihnen fühle ich mich in diesen Tagen nahe.
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