Visionen dürfen nicht der Budget-Pragmatik geopfert werden

von Christoph Reichenau 10. November 2020

Einige der auf der Grünen Freien Liste (GFL) Kandidierenden setzen den Akzent auf Kunst und Kultur. Wir fragen Beate Engel, Peter Erismann, Susan Herion und Radwina Seiler, was sie erreichen wollen.

Ein Gruppengespräch in der Kornhausbibliothek. Es ist dabei zuweilen die Rede vom Positionspapier «Kultur und Kulturpolitik in der Stadt Bern», das die Arbeitsgruppe Kultur vorbereitet und die Mitgliederversammlung der Partei im Sommer 2020 genehmigt hat.

Welches Anliegen würde einen im Stadtrat bewegen? Radwina Seiler  will, dass die Schulen mehr Unterstützung erhalten, Kulturprojekte zu realisieren und so Kultur als notwendigen Bildungsauftrag zu verstehen. Kultur bereichert die Bildung; sie ist für alle unverzichtbar, auch in den Schulen. Ausserdem soll die Arbeit der KünstlerInnen besser entschädigt werden; gerade von hoch subventionierten Häusern erwartet sie faire Löhne, von denen man leben kann.

Susan Herion setzt sich ein für Kultur als Querschnittsthema, das gerade in den Quartieren mehr Verankerung verdient. Kunst berührt, sie muss allen zugänglich sein.

Beate Engel ist es wichtig, gerade in der Corona-Zeit die freie Szene in allen Sparten zu unterstützen und zwar über besondere Förderprogramme, nicht nur durch Ausfallsentschädigungen. Mildtätigkeit ist gut, Kreativität ermöglichen ist besser. So können Ideen wachsen, auch für die Zeit nach der Pandemie.

Peter Erismann liegt das Museumsquartier am Herzen. Die gemeinsame Entwicklung unterschiedlicher Institutionen im unteren Kirchenfeld hat grosses Potenzial, auch für eine stärkere Ausstrahlung als selbstbewusste Kulturstadt, die manchmal zu selbstgenügsam ist. Auch oder gerade in der Krise darf man visionäre Projekte nicht vernachlässigen, man muss sie jedoch überzeugend erklären.

Nicht ohne Visionen

Dem schliesst sich Radwina Seiler an: Visionen müssen lebendig bleiben, dürfen nicht dem Pragmatismus des Budgets geopfert werden.

Entscheidend ist für Susan Herion allerdings, in welcher Perspektive grosse Vorhaben entwickelt werden. Es muss im Blick auf Zugänglichkeit für alle Leute gehen, um Solidarität, um Inklusion, um eine offenere und gerechtere Gesellschaft.

Beate Engel verweist darauf, dass die Erweiterung des Kunstmuseums (KMB) – ein Debakel seit langem – nun entschieden anzupacken ist. Für Viele ist das KMB ein Tor zur Hauptstadt. Es darf nicht ein ewiges Projekt bleiben wie der Berliner Flughafen. Das Museumsquartier ist nicht weniger wichtig, es ist aber als Vorhaben noch weniger weit.


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Falls zwischen dem einen und anderen zu entscheiden wäre, zöge Peter Erismann das Museumsquartier vor. Dieses könnte zu einer Art Universalmuseum, einer Wunderkammer wie vor vielen hundert Jahren werden. In diesem Komplex könnte jemand «museal aufwachsen» und vom Tier- bzw. Kommunikationsmuseum in andere Themen und weitere Museumsformen hineinfinden. Im Übrigen steht seines Erachtens dem KMB in Verbindung mit dem zugehörigen Zentrum Paul Klee genügend Raum zur Verfügung.

Dazu merkt Radwina Seiler an, auf keinen Fall dürfe die Beruhigung der Hodlerstrasse beziehungsweise die Verlegung der Ausfahrt der Metro-Garage zur Bedingung der KMB-Erweiterung gemacht werden, wie dies Geldgeber fordern. Und gewiss müsste der Erweiterungsbau einen starken architektonischen und städtebaulichen Akzent setzen.

Willkommenskultur, doch nicht Gratiskultur

Eine «Willkommenskultur» brauche es in Bern, fordert Susan Herion: zum Beispiel freien Eintritt in die Museen, nicht nur ab und zu, sondern ständig, um allen zu zeigen, dass die Museen die Leute jeder Herkunft so gut brauchen, wie diese die Museen.

Dafür könnten – meint Radwina Seiler – neben der KulturLegi auch Gutscheine ausgegeben werden, besonders für Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern, wie übrigens auch im öffentlichen Verkehr.

Allerdings darf der Wert der Kultur nicht gemindert werden, wenn oder weil sie nichts kostet. Eine Gratismentalität, mahnt Peter Erismann, gefährde die Würdigung der Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern.

Was erhält Geld aus der Kulturförderung? fragt Radwina Seiler, und antwortet selbst: Oft das, was bekannt ist. Deshalb braucht es im Förderbudget einen grösseren Anteil für Unvorhergesehenes, neu Entdecktes, etwas wie den Hauptstadtfonds, dem in Zukunft das Geld aus des gestrichenen Bundesmillion fehlen wird.

Beate Engel: Man kann nicht davon ausgehen, dass es für Kultur beliebig mehr Mittel geben wird. Um nicht den Besitzstand der heute subventionierten Institutionen zu wahren, könnte man offene Fördergefässe für Projekte und Kooperationen schaffen, die sowohl für die etablierten Institutionen wie für die Freie Szene offen wären. Dies ermöglichte eine Neueinschätzung von Grund auf und eine punktuelle Umverteilung der Mittel. Das wäre ein radikaler Neuanfang für die Kulturstadt Bern.

Es gehe nicht darum, den gleichen Kuchen unter mehr Essende zu verteilen. Susan Herion will den Kuchen vergrössern durch geschicktere Verzahnung der verschiedenen Kulturbudgets (Stadt, Kanton, Burgergemeinde Bern, Stiftungen) und durch eine Ausweitung der Kulturförderung auf alle städtischen Verwaltungsstellen, wie es die Kulturstrategie der Stadt vorsieht.

Auch Peter Erismann steht zur städtischen Strategie, die in einem partizipativen Prozess erarbeitet worden ist. Dass Kultur darin als Metathema (nicht nur für die städtische Verwaltung) verstanden wird, ist aus seiner Sicht zentral.  

Was soll in 4 Jahren sein?

Abschliessend die Frage, wo die Kultur und die Kulturförderung in Bern in vier Jahren sein sollten. In Stichworten lauten die Antworten:

–        Mehr Geld für die Kultur ist budgetiert und ein Anteil von mindestens 15% für die freie Szene gewährleistet (Peter Erismann).

–        Die Gremien für die Kulturförderung und die Organe der Kulturinstitutionen sind in ihrer Diversität ein Abbild der Stadtbevölkerung und ein Hebel für kulturelle Offenheit. Das kostet nichts ausser einer klaren Haltung (Susan Herion).

–        Das grosse Kulturangebot wird als zentrales Merkmal der Stadt nationale und internationale Ausstrahlung erhalten, so dass die hiesige Bevölkerung auf sich selbst stolz ist (Radwina Seiler).

–        Kulturpolitik ist Stadtentwicklung geworden, so wie es die Strategie will. Damit wird deutlich, dass nicht so sehr die Stadt die Kultur fördert, sondern die Kultur die Gesellschaft und die Stadt (Beate Engel).

So fügen sich die Zukunftsvorstellungen der möglichen Stadtratsmitglieder ineinander. Und wer ist für mehr kulturelle Performance verantwortlich, die sich alle wünschen? Zuoberst der Stadtpräsident, der aus der gleichen Partei stammt. Kultur kann alles ändern.